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Der Kaufmann von Lippstadt

Der Kaufmann von Lippstadt

Titel: Der Kaufmann von Lippstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Maria Fust
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ist nur noch eine Frage von Tagen – wenn es gut läuft, Wochen – bis er auch sein Haus verliert. Er kann keine Rechnung mehr bezahlen. Die Gläubiger werden immer ungeduldiger. Chirurg Hoffmann hat ihm doch in der letzten Woche tatsächlich das Rasieren verweigert, weil er die letzten drei Rechnungen noch nicht bezahlt hat! Wie es ihm nach langem Reden dann doch noch gelungen ist, Hoffmann zum Rasieren zu bringen, weiß er, Overkamp, selbst nicht. An Haare schneiden war kaum zu denken, aber hinten berührten seine Haare bereits den Kragen! Seine Tochter, das kleine Thereschen, wird ausgelacht und gehänselt. »Ihr gehört ins Armenhaus!«, hat ein älterer Junge hinter ihr hergerufen. Wenn es nicht so bitter wäre, könnte er sich glücklich schätzen, kein Schulgeld mehr bezahlen zu müssen. Thereschen geht noch nicht zur Schule. Seine Söhne ruhen nahe der Großen Marienkirche und Elisabeth – ja, Elisabeth. Sie hat einen Sohn! Er, Overkamp, ist Großvater. Wie gerne wäre er ein guter Großvater, der den Kleinen auf seinen Knien reiten lässt und ihm Geschichten erzählt. Aber so? Nein, er hat alles getan, was in seiner Macht stand, doch er, der einst einflussreichste Kaufmann Lippstadts, hat den Untergang seiner Familie nicht verhindern können. Es ist ihm zwar gelungen, dass niemand in der Stadt von Elisabeths Fehltritt erfahren hat, doch der Schmerz und die Pein sind stets in ihm. Ganz zu schweigen, was in Folge dieser Angelegenheit alles geschehen ist! Er hat alles verloren! Das Wenige, was er noch sein Eigen nennen darf, ist auch so gut wie weg.
    »Heda, Overkamp, was machen Sie denn hier draußen auf dem Festungsgürtel bei diesem Wetter? Der Wind verheißt nichts Gutes, der Himmel zieht sich zu und wird ganz dunkel. Gehen Sie lieber nach Hause, solange Sie noch eines haben«, sagt Caspar Engerling dreist.
    »Sie …«, Overkamp holt tief Luft, doch es fehlen ihm die Worte. »Sie!«, brüllt er und greift Engerling am Schlafittchen. Er schüttelt ihn, als wäre er vom Teufel besessen. Dicke Regentropfen prasseln auf beide nieder. In der Ferne hört man Donnergrollen. Engerling stürzt zu Boden und reißt Overkamp mit sich. Die beiden rangeln und schlagen aufeinander ein, bis Overkamp einen Stein greifen kann. Ohne nachzudenken, schlägt er ihn an Engerlings Stirn, der wie leblos auf dem Festungswall liegen bleibt. Entsetzt ob seiner Tat blickt Overkamp sich um. Es ist ziemlich dunkel, und als ein Blitz einen Augenblick lang alles in ein gespenstisches Licht taucht, erkennt Overkamp, dass er sich vor dem Soest Tor befindet. Dann ist alles wieder dunkel. In Windeseile fertigt er den Henkersknoten an, der ihm dank seiner unzähligen Versuche sofort gelingt. Die Schlinge legt sich beinahe von selbst um Engerlings Hals, so leicht geht Overkamp all das von der Hand. Wie in früheren Zeiten, als ihm auch alles gelang. Schlinge zuziehen – fertig. Doch halt! Wo genau will er das andere Ende des Seils befestigen? Wie passend wäre es, wenn der Gehängte mitten unter dem gemauerten Bogen der Wallpoterne baumeln würde. Es regnet immer heftiger. Blitz und Donner wechseln sich ab. Unheimlich sieht es aus, wenn für einen kleinen Augenblick im Blitzlicht Engerlings Hals in der Schlinge sichtbar wird. Schauderhaft. Aber Overkamp hat mittlerweile so viel erlebt, hat zwei unschuldige Burschen auf dem Gewissen und den Köpner getötet und verscharrt. Hat sich diesen Augenblick am Soest Tor immer wieder ausgemalt, sodass es ihm beinahe so vorkommt, als hätte er diesen bereits erlebt. Oder erlebte ihn ein zweites Mal. Nein, er muss sich zusammenreißen. Halte die Gedanken beieinander, ermahnt er sich immer wieder. Mache keinen Fehler. Nicht den geringsten! Nass bis auf die Knochen läuft er nun zur Wallpoterne, um zu schauen, ob sich nicht zufällig ein Haken dort oben befindet. Es gibt nur auf der rechten Seite den Rest eines Beschlages oder eines … Overkamp kann es im Dunklen nicht erkennen. Aber selbst wenn es eine geeignete Befestigung für das Seil in dieser großen Höhe geben würde, wie sollte er es dort oben befestigen können? Er hat natürlich keine Leiter dabei, und doch es scheint, als sei Gott wieder ganz bei ihm, denn er hat das Seil in der Tasche gehabt. Der Wind peitscht den Regen beinahe waagerecht in die Poterne hinein. Es ist empfindlich kalt geworden. Und so dunkel, dabei kann es kaum später als etwa fünf Uhr am Nachmittag sein. Overkamp muss weitersuchen. Jetzt ist er so weit gekommen,

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