Der Keim des Verderbens
mir selbst aufgebaut hab'. Ich bin kinderlos. Meine einzige Schwester kann ich nicht ausstehen und sie mich auch nicht. Mein Vater lag während meiner gesamten Kindheit todkrank im Bett und starb, als ich zwölf war. Mutter ist eine unmögliche Person, und jetzt siecht sie an einem Emphysem dahin. Ich kann nicht die gute Ehefrau sein, die du dir wünschst.
Ich weiß ja noch nicht mal, was das verdammt noch mal bedeutet. Ich kann einfach nur ich selbst sein. Und ein Besuch beim Psychiater wird daran nicht das geringste ändern.«
Da sagte er: »Und ich liebe dich und möchte dich heiraten. Und daran läßt sich offenbar auch nichts ändern.«
Ich antwortete nicht.
Er fügte hinzu: »Und ich dachte, du liebst mich auch.«
Ich war immer noch nicht in der Lage zu sprechen.
»Zumindest hast du das früher getan«, fuhr er fort, und Schmerz erstickte seine Stimme. »Ich gehe jetzt.«
Er schickte sich wieder an aufzustehen, doch ich legte meine Hand auf seinen Arm.
»Nicht so.« Ich sah ihn an. »Tu mir das nicht an.«
»Ich dir?« Er war fassungslos.
Ich dimmte das Licht, bis es fast aus war. Der Mond stand wie eine glänzende Münze vor dem sternenklaren, schwarzen Himmel. Ich holte neuen Wein und machte Feuer, während er jede meiner Bewegungen beobachtete.
»Setz dich dichter zu mir«, sagte ich.
Er kam meinem Wunsch nach, und diesmal nahm ich seine Hände.
»Benton, hab Geduld. Dräng mich nicht«, sagte ich. »Bitte. Ich bin nicht wie Connie. Oder wie andere.«
»Das verlange ich doch gar nicht von dir«, sagte er. »Im Gegenteil. Ich bin auch nicht wie andere. Wir sehen und wissen Dinge, die außer uns keiner versteht. Mit Connie konnte ich nie über das reden, was ich den Tag über tue. Mit dir kann ich das.«
Er küßte mich zärtlich, und dann war es um uns geschehen.
Unsere Gesichter, unsere Zungen verschmolzen, im Nu waren wir ausgezogen und taten das, worin wir früher am besten gewesen waren. Er nahm mich in die Arme und verschlang mich mit seinen Lippen, und wir blieben auf der Couch liegen, bis am frühen Morgen das Licht des Mondes kalt und fahl wurde. Als er nach Hause gefahren war, wanderte ich mit einem Glas Wein in der Hand durchs Haus. Überall strömte Musik aus Lautsprechern, und ich lief ruhelos hin und her.
Schließlich landete ich in meinem Arbeitszimmer, wo es mir immer am leichtesten fiel, mich abzulenken.
Ich fing an, Fachzeitschriften durchzusehen und Artikel herauszureißen, die abgelegt werden mußten. Ich begann, einen Artikel zu schreiben, den ich bald abliefern mußte. Doch ich war weder für das eine noch das andere in der richtigen Stimmung, und so entschloß ich mich, nach EMail zu sehen. Vielleicht hatte Lucy mir mitgeteilt, wann sie nach Richmond kommen konnte. Bei AOL wurde ich mit der Meldung begrüßt, ich hätte Post, und als ich in meiner Mailbox nachsah, traf mich der Schlag. Wie ein Feind, der auf mich wartete, stand da der Name deadoc.
Die Mail war in Kleinbuchstaben und ohne Satzzeichen verfaßt. Sie lautete: sie halten sich wohl für sehr schlau. Ich öffnete die angehängte Datei und sah ein zweites Mal zu, wie sich ein Farbbild auf meinem Bildschirm aufbaute: Amputierte Füße und Hände lagen nebeneinander auf einem Tisch, der offenbar mit demselben bläulichen Stoff bedeckt war wie der auf dem ersten Foto. Eine Zeitlang starrte ich auf den Monitor und fragte mich, warum dieser Mensch mir das antat. Aber dann kam mir der Gedanke, daß er möglicherweise gerade einen großen Fehler gemacht hatte. Hoffnungsvoll griff ich zum Telefon.
»Marino!« rief ich, als er endlich abnahm.
»Hm? Was ist los?« grunzte er, als er zu sich gekommen war.
Ich erzählte es ihm.
»Scheiße. Es ist drei Uhr morgens, verdammt noch mal. Schlafen Sie denn nie?«
Er schien erfreut über meinen Anruf. Wahrscheinlich schloss er daraus, daß Wesley nicht mehr bei mir war.
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?« fragte er dann.
»Hören Sie zu. Die Handflächen zeigen auf dem Bild nach oben«, sagte ich. »Das Foto wurde aus nächster Nähe gemacht. Ich kann allerlei Einzelheiten erkennen.«
»Was denn zum Beispiel? Eine Tätowierung oder so was?«
»Papillarlinien«, sagte ich.
Neils Vander war der Leiter der Abteilung für Daktyloskopie, ein älterer Mann mit schütterem weißen Haar und einem weiten Laborkittel voller violetter und schwarzer Ninhydrin- und Einstäubepulverflecken, die sich schon lange nicht mehr herauswaschen ließen. Er kam aus vornehmem virginischen
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