Der Keim des Verderbens
ich doch bloß auch so einen Laden bei mir in der Nachbarschaft hätte! Der Täter hat das Opfer also in eine Abdeckplane gewickelt und es dann durch die Plane hindurch zerstückelt?« fragte sie, während sie ihr Fleisch zerkleinerte.
»So sieht es jedenfalls aus.«
»Was sagt Wesley?« Unsere Blicke trafen sich.
»Ich habe ihn bisher noch nicht erreicht.« Das stimmte nicht ganz. Ich hatte ihn noch gar nicht angerufen.
Lucy schwieg einen Moment. Sie stand auf und holte eine Flasche Evian. »Wie lange willst du eigentlich noch vor ihm weglaufen?«
In der Hoffnung, sie würde mich in Ruhe lassen, tat ich so, als hätte ich nicht zugehört.
»Du weißt doch selbst, daß du das tust. Du hast Angst.«
»Das steht nun wirklich nicht zur Debatte«, sagte ich. »Vor allem, wo wir doch gerade so einen netten Abend haben.«
Sie griff nach ihrem Wein.
»Der ist übrigens sehr gut«, sagte ich. »Ich mag Pinot Noir, der ist nicht so schwer wie ein Merlot. Momentan bin ich nicht in der Stimmung für einen schweren Wein. Du hast also eine gute Wahl getroffen.«
Sie verstand den Wink und spießte ein weiteres Stück Steak auf die Gabel.
»Wie läuft es denn eigentlich bei Janet?« fuhr ich fort. »Ist sie immer noch soviel in Washington und verfolgt Wirtschaftskriminelle? Oder hat sie mittlerweile mehr bei der ERF zu tun?«
Lucy starrte aus dem Fenster den Mond an und ließ langsam den Wein in ihrem Glas kreisen. »Ich setz' mich mal besser an deinen Computer.«
Während ich aufräumte, verschwand sie in meinem Arbeitszimmer. Ich ließ sie eine ganze Weile in Ruhe, wenn auch nur deshalb, weil ich wusste, daß sie sauer auf mich war. Sie wollte, daß zwischen uns absolute Offenheit herrschte, doch darin war ich noch nie gut gewesen, mit niemandem. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als hätte ich alle, die mir nahestanden, enttäuscht. Ich saß eine Weile in der Küche und telefonierte mit Marino, und dann rief ich im Krankenhaus an, um mich nach meiner Mutter zu erkundigen. Ich setzte eine Kanne koffeinfreien Kaffee auf und ging mit zwei Bechern den Flur hinunter. Die Brille auf der Nase und die junge, glatte Stirn leicht gerunzelt, arbeitete Lucy konzentriert an meinem Computer.
Ich stellte ihren Kaffee ab und sah mir über ihre Schulter hinweg an, was sie da eintippte. Wie üblich verstand ich überhaupt nichts.
»Na, wie sieht's aus?« fragte ich.
Ich sah, wie sich mein Gesicht im Monitor spiegelte, während sie auf die Enter-Taste drückte und damit einen weiteren UNIX-Befehl ausführte.
»So lala«, antwortete sie mit einem genervten Seufzer. »Das Problem bei Programmen wie AOL ist, daß man Dateien nur dann zurückverfolgen kann, wenn man sich -wie ich es gerade tue - auf die Ebene der ursprünglichen Programmiersprache begibt. Und das ist, als würde man eine Stecknadel im Heuhaufen suchen.«
Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich neben sie. »Lucy«, sagte ich, »wie musste der Absender vorgehen, um mir diese Fotos zu schicken? Kannst du mir das Schritt für Schritt erklären?«
Sie hörte auf zu tippen, nahm die Brille ab und legte sie auf den Schreibtisch. Dann rieb sie sich das Gesicht und massierte sich die Schläfen, als habe sie Kopfschmerzen.
»Hast du eine Tylenol für mich?« fragte sie.
»Kein Paracetamol auf Alkohol.« Ich öffnete eine Schublade und holte statt dessen ein Fläschchen Motrin heraus.
»Zuerst einmal«, sagte sie und nahm zwei Tabletten, »wäre das nicht so leicht gewesen, wenn dein AOL-Name nicht deinem richtigen Namen entsprechen würde:
KSCARPETTA.«
»Das ist Absicht. So ist es für meine Kollegen leichter, mir Mails zu schicken«, erklärte ich zum wiederholten Mal.
»Damit ist es für jeden leicht, dir welche zu schicken.« Sie sah mich vorwurfsvoll an. »Hat dir früher schon mal jemand so einen Streich gespielt?«
»Ich finde, das hier ist mehr als ein Streich.«
»Bitte beantworte meine Frage.«
»Ein paarmal. Es war aber immer nur harmloses Zeug.« Ich hielt inne und fuhr dann fort. »Meistens nach einem großen Fall oder einem Sensationsprozeß, der für Aufsehen gesorgt hat.«
»Du solltest deinen User-Namen ändern.«
»Nein«, sagte ich. »Vielleicht hat deadoc vor, mir noch mal zu mailen. Ich kann die Adresse jetzt nicht ändern.«
»Na toll.« Sie setzte ihre Brille wieder auf. »Jetzt willst du also eine Brieffreundschaft mit ihm anfangen.«
»Lucy, bitte«, sagte ich leise. Mittlerweile bekam auch ich Kopfschmerzen. »Laß uns einfach unsere
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