Der Keim des Verderbens
konnte.
In der Leichenhalle betrachteten Fielding und die Nationalgardisten das Verkehrsopfer auf Tisch eins. Die üblichen Sprüche blieben aus, denn die Tote war die neunjährige Tochter eines Mitglieds des Stadtrats. Sie war frühmorgens zur Bushaltestelle gegangen, als ein Autofahrer mit hohem Tempo von der Straße abkam. Der Wagen hatte das Mädchen von hinten erfaßt. Das Fehlen von Bremsspuren deutete darauf hin, daß er noch nicht einmal das Tempo gedrosselt hatte.
»Wie sieht's aus?« fragte ich, als ich zu ihnen stieß.
»Das ist eine böse Geschichte«, sagte einer der Nationalgardisten mit ernstem Gesicht.
»Der Vater dreht total durch«, erklärte Fielding mir, während er den bekleideten Leichnam mit einer Lupe auf Spuren absuchte.
»Haben Sie Lackpartikel gefunden?« fragte ich. Mit Hilfe eines Lacksplitters lassen sich Automarke und -modell identifizieren.
»Bislang nicht.« Mein Stellvertreter war äußerst übel gelaunt.
Er haßte es, Kinder zu obduzieren.
Ich ließ meinen Blick über die zerrissene, blutige Jeans und den teilweise erkennbaren Abdruck eines Kühlergrills wandern, der sich in Gesäßhöhe auf dem Stoff abzeichnete. Die vordere Stoßstange hatte sie in die Kniekehlen getroffen, und ihr Kopf war auf die Windschutzscheibe aufgeschlagen.
Sie hatte einen kleinen roten Rucksack auf dem Rücken gehabt. Das Lunchpaket und die Bücher, Zettel und Stifte, die herausgenommen worden waren, versetzten mir einen Stich.
Das Herz wurde mir schwer.
»Der Abdruck des Kühlergrills sitzt ziemlich weit oben«, bemerkte ich.
»Kommt mir auch so vor«, sagte ein anderer Nationalgardist.
»Wie von einem Pick-up-Truck oder einem Geländewagen.
Etwa zur Zeit des Unfalls wurde ein schwarzer Jeep Cherokee in der Gegend gesehen, der mit hoher Geschwindigkeit unterwegs war.«
»Ihr Vater ruft alle halbe Stunde an.« Fielding warf mir einen Blick zu. »Er glaubt, es war kein Unfall.«
»Was will er damit andeuten?« fragte ich.
»Daß es ein Anschlag war.« Er machte sich wieder daran, Fasern und Schmutzpartikel von der Leiche abzusammeln.
»Mord.«
»Du lieber Gott, das wollen wir doch nicht hoffen«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Es ist so schon schlimm genug.«
Auf einem Stahltisch ganz hinten in der Leichenhalle stand ein elektrischer Wasserkocher, in dem wir die Knochen mazerierten. Das war eine äußerst unangenehme Prozedur, bei der die Leichenteile in einer zehnprozentigen Bleichmittellösung gekocht werden mußten. Das Scheppern des großen Stahltopfes und der Gestank waren entsetzlich. Normalerweise erledigte ich diese Arbeit an Abenden und Wochenenden, an denen es unwahrscheinlich war, daß Besucher die Gerichtsmedizin betraten.
Am Vortag hatte ich die Knochenenden, die ich vom Rumpf abgetrennt hatte, in den Topf gelegt, und über Nacht kochen lassen. Sie waren bereits fertig, und ich schaltete den Kocher aus. Ich schüttete das stinkende, dampfende Wasser in einen Ausguß und wartete, bis die Knochen so weit abgekühlt waren, daß man sie anfassen konnte. Sie waren sauber und weiß, etwa fünf Zentimeter lang. Die Schnitt- und Sägespuren waren deutlich zu erkennen. Während ich jedes einzelne Segment sorgfältig untersuchte, überlief mich plötzlich ein eisiger Schauer. Ich konnte nicht unterscheiden, welche Sägespuren vom Mörder stammten und welche von mir.
»Jack«, rief ich nach Fielding. »Können Sie mal einen Moment herkommen?«
Er unterbrach seine Tätigkeit und kam zu mir herüber.
»Was ist los?« fragte er.
Ich reichte ihm einen der Knochen. »Können Sie erkennen, welches Ende mit der Stryker-Säge abgesägt wurde?«
Er drehte und wendete ihn wieder und wieder, ließ seinen Blick von einem Ende zum anderen wandern und runzelte die Stirn. »Haben Sie es markiert?«
»Nur, welches der rechte und welches der linke ist«, sagte ich.
»Sonst nicht. Ich hätt's natürlich tun sollen. Aber normalerweise lassen sich die Enden so leicht auseinanderhalten, daß es einfach nicht nötig ist.«
»Ich bin kein Experte, aber wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, daß alle Schnitte von derselben Säge stammen.« Er gab mir den Knochen wieder zurück, und ich begann, ihn in eine Beweismitteltüte zu packen. »Sie müssen mit den Knochen doch ohnehin zu Canter, oder?«
»Der wird nicht zufrieden mit mir sein«, sagte ich.
Kapitel 6
Mein Haus lag am Rande von Windsor Farms, einem altehrwürdigen Viertel von Richmond. Hier hatten die Straßen englische
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