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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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aufbleibst und daran denkst. Darin besteht ja sein Spiel, seine Macht.«
    »Warum ich?« Mir war immer noch übel.
    »Weil es eine Herausforderung ist, es mit dir aufzunehmen, Kay. Sogar für nette Leute wie mich. Geh ins Bett. Wir sprechen uns morgen. Ich liebe dich.«
    Doch lange konnte ich nicht schlafen. Ein paar Minuten nach vier Uhr morgens klingelte wieder das Telefon. Diesmal war es Dr. Hoyt, ein praktischer Arzt, der die letzten zwanzig Jahre als staatlicher Leichenbeschauer in Norfolk gearbeitet hatte. Er ging auf die Siebzig zu, war aber noch rüstig und geistig voll auf der Höhe. Ich hatte es noch nie erlebt, daß ihn etwas in Aufregung versetzte, doch schon der Klang seiner Stimme war alarmierend.
    »Tut mir leid, Dr. Scarpetta«, sagte er. Er sprach sehr schnell.
    »Ich bin auf Tangier Island.«
    Seltsamerweise fielen mir dazu nur Krabbenfrikadellen ein.
    »Was in aller Welt machen Sie da?«
    Ich stopfte mir ein paar Kissen in den Rücken und griff nach Notizblock und Stift.
    »Ich bin gestern spätabends hergerufen worden und war die halbe Nacht hier draußen. Die Küstenwache musste mich mit einem ihrer Schiffe herbringen, dabei kann ich Bootsfahrten auf den Tod nicht ausstehen. Auf dem Wasser wird man immer durchgeschüttelt wie in einer Achterbahn. Außerdem war es höllisch kalt.«
    Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
    »Das letzte Mal, daß ich so etwas gesehen hab', war 1949 in Texas«, fuhr er hastig fort, »während meiner Zeit als Assistenzarzt, kurz vor meiner Hochzeit ...«
    Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn zu unterbrechen. »Immer langsam, Fred«, sagte ich. »Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
    »Eine zweiundfünfzigjährige Frau von Tangier Island. Liegt wahrscheinlich schon mindestens vierundzwanzig Stunden tot in ihrem Schlafzimmer. Sie ist von oben bis unten mit einem schlimmen Ausschlag bedeckt, bis hin zu Handflächen und Fußsohlen. So verrückt es auch klingen mag: Es sieht ganz nach Pocken aus.«
    »Stimmt. Das ist verrückt«, sagte ich, und mein Mund wurde trocken. »Was ist mit Windpocken? Könnte es sein, daß die Frau eine Immunschwäche hatte?«
    »Ich weiß gar nichts über sie, aber solche Windpocken habe ich noch nie gesehen. Dieser Ausschlag entspricht dem Erscheinungsbild von Pocken. Er tritt in Haufen auf, die Stellen sind überall etwa gleich alt, und je weiter sie von der Körpermitte entfernt sind, desto flächiger werden sie. Im Gesicht und auf den Extremitäten gehen die einzelnen Flächen ineinander über.«
    Ich dachte an den Rumpf, an den Ausschlag, den ich für Gürtelrose gehalten hatte, und ich bekam furchtbare Angst. Ich wusste zwar nicht mit Sicherheit, wo jenes Opfer gestorben war, doch daß der Tatort in Virginia lag, stand für mich so gut wie fest. Auch Tangier Island, eine winzige, der Küste vorgelagerte Insel in der Chesapeake Bay, deren Existenzgrundlage die Krabbenfischerei war, gehörte zu Virginia.
    »Es gibt heutzutage eine Menge eigenartiger Viren«, sagte er.
    »Ja, allerdings«, stimmte ich zu. »Aber weder Hanta noch Ebola, HIV, Dengue oder ähnliches verursachen die Symptome, die Sie gerade beschrieben haben. Natürlich ist nicht auszuschließen, daß es etwas gibt, von dem wir noch gar nichts wissen.«
    »Ich kenne die Pocken, Kay. Ich bin schon so alt, daß ich sie noch mit eigenen Augen gesehen habe. Zwar bin ich kein Experte für Infektionskrankheiten, und mein Wissen ist nicht halb so groß wie Ihres. Aber mit was für einem Erreger wir es hier auch zu tun haben, fest steht: Diese Frau ist tot, und sie ist an irgendeinem Pockenvirus gestorben.«
    »Offenbar lebte sie allein.«
    »Ja.«
    »Und wann wurde sie zuletzt lebend gesehen?«
    »Das versucht der Polizeichef gerade herauszufinden.«
    »Welcher Polizeichef?« fragte ich.
    »Das Police Department von Tangier besteht nur aus einem Beamten. Er ist der Polizeichef. Ich befinde mich gerade in seinem Wohnwagen und benutze sein Telefon.«
    »Er hört aber nicht mit.«
    »Nein, nein. Er ist draußen und spricht mit den Nachbarn.
    Ich hab' mir alle Mühe gegeben, etwas aus ihnen herauszubekommen, aber besonders viel Glück hatte ich nicht. Waren Sie schon mal hier draußen?«
    »Nein.«
    »Ich sag's mal so: Die kommen alle aus demselben Stall. Auf der ganzen Insel gibt es vielleicht drei Familiennamen. Die meisten Leute, die hier aufwachsen, ziehen nie weg. Wenn die reden, kann man kaum ein Wort verstehen. Diesen Dialekt hört man wirklich nirgendwo sonst auf der

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