Der Keim des Verderbens
Autopsie. Es war nicht einfach für mich, das Interesse der Ärzte und Wissenschaftler für meine Belange beziehungsweise die meiner bereits toten Patienten zu wecken, wo doch in den Krankenhausbetten lauter Menschen lagen, die um ihr Leben bangten und auf ein erlösendes Wort von den Ärzten warteten. Daher hatte ich Dr. Phyllis Crowder, die Mikrobiologin, bisher noch nie zeitlich unter Druck gesetzt. Sie wusste, daß es diesmal etwas anderes war.
Schon auf dem Gang erkannte ich ihren britischen Akzent.
Sie telefonierte.
»Ich weiß. Das verstehe ich ja«, sagte sie gerade, als ich an die offene Tür klopfte, »aber Sie müssen entweder einen neuen Termin ansetzen oder ohne mich weitermachen. Mir ist etwas dazwischengekommen.« Sie lächelte und winkte mich herein.
Ich hatte sie während meiner Assistenzarztzeit kennengelernt und war immer überzeugt gewesen, daß ich den Umstand, überhaupt als Kandidatin berücksichtigt worden zu sein, als der Posten des Chief Medical Examiners von Virginia frei wurde, einem guten Wort von einer Autorität wie ihr zu verdanken hatte. Sie war ungefähr genauso alt wie ich und hatte nie geheiratet. Ihre kurzen Haare waren vom gleichen Dunkelgrau wie ihre Augen, und sie trug immer dieselbe Kette mit einem antik aussehenden goldenen Kreuz um den Hals. Ihre Eltern waren Amerikaner, doch geboren war sie in England, wo sie auch ausgebildet worden war und ihre erste Laborstelle gehabt hatte.
»Scheißkonferenzen«, schimpfte sie, als sie auflegte. »Es gibt nichts, was ich mehr hasse. Da sitzen die Leute doch bloß rum und reden, anstatt zu handeln.«
Sie zog Handschuhe aus einer Schachtel und reichte mir ein Paar. Als nächstes gab sie mir eine Maske.
»An der Tür hängt ein Laborkittel, den Sie nehmen können«, fügte sie hinzu.
Ich folgte ihr in den kleinen, dunklen Raum, in dem sie mit etwas beschäftigt gewesen war, bevor das Telefon geklingelt hatte. Ich schlüpfte in den Kittel und suchte mir einen Stuhl, während sie auf einen grün phosphoreszierenden Bildschirm im Innern der gewaltigen Mikroskopierkammer schaute. Das TEM wirkte eher wie ein Gerät aus der Ozeanographie oder Astronomie anstatt wie ein normales Mikroskop. Die Kammer erinnerte mich immer an den Helm eines Taucheranzugs, durch den man in einem schillernden Meer unheimliche, geisterhafte Bilder sehen konnte.
Durch einen dicken Metallzylinder, der von der Kammer bis zur Decke reichte, traf ein 100.000 Volt Strahl auf meine Probe, ein Stück Leber von sechs bis sieben Hundertstel Mikrometer Dicke. Abstriche wie die, die ich mir mit dem Lichtmikroskop angesehen hatte, waren einfach zu dick, als daß der Elektronenstrahl sie durchdringen konnte.
Vorausschauend hatte ich bei der Autopsie Leber- und Milzschnitte in Glutaraldehyd fixiert, einer Chemikalie, die sehr schnell ins Gewebe eindringt. Die Proben hatte ich Crowder geschickt, die sie, wie ich wußte, in Kunststoff gegossen und dann mit dem Ultramikrotom sowie dem Diamantmesser geschnitten hatte, worauf sie auf ein winziges Kupfergitter gelegt und mit Uran- und Blei-Ionen angereichert worden waren.
Was wir nun im Licht der fast 100.000fach vergrößerten, grün schimmernden Probe sahen, als wir in die Kammer schauten, hatte keine von uns erwartet. Knöpfe klickten, als sie Spannung, Kontrast und Vergrößerung einstellte. Auf dem Monitor leuchteten rechteckige Viruspartikel mit doppelsträngiger DNS, 200 bis 250 Nanometer groß. Was wir da vor uns hatten, konnten nur Pocken sein.
»Was meinen Sie?« fragte ich in der Hoffnung, sie würde mich eines Besseren belehren.
»Das ist zweifelsohne irgendein Pockenvirus«, sagte sie, da sie sich offenbar nicht festlegen wollte. »Die Frage ist nur, welches. Die Pusteln verlaufen nicht entlang der Nervenbahnen. Außerdem bekommt man in diesem Alter nur selten Windpocken. Große Sorgen macht mir, daß Sie jetzt offenbar noch einen zweiten Fall mit den gleichen Symptomen haben. Es müssen natürlich noch weitere Tests gemacht werden, aber ich würde das hier als medizinischen Notstand einstufen.« Sie sah mich an. »Als internationalen Krisenfall. Ich würde die CDC benachrichtigen.«
»Genau das habe ich vor«, sagte ich und schluckte schwer.
»Können Sie sich einen Reim darauf machen, weshalb wir einen solchen Erreger ausgerechnet auf einer zerstückelten Leiche finden?« fragte sie, während sie in die Kammer schaute und die Einstellungen nachjustierte.
»Überhaupt keinen«, sagte ich und stand auf. Ich
Weitere Kostenlose Bücher