Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
Ich hoffe doch sehr, dass Ihr dieses Spielchen nicht weiterzuspielen beabsichtigt.«
»Ich möchte meinen Bruder sehen.«
»Wie Ihr wünscht«, erwiderte er kühl. »Bringt den Gefangenen nach vorn.«
Einer der Reiter gab dem Pferd neben sich einen Klaps mit der flachen Seite seines Schwerts. Das Tier trabte mit der gekrümmten Gestalt des Mannes auf dem Rücken los. Kenrick war nur notdürftig in eine zerfressene Decke gehüllt, deren Mottenlöcher den Blick auf schmutzige und zerrissene Kleidung freigaben. Kein Wunder, dass er sich kaum aufrecht im Sattel halten konnte: Die Hände waren ihm vor dem Körper zusammengebunden. Man hatte ihm noch nicht einmal Handschuhe gegen die Kälte gegeben, und auch seine Füße waren nur in dünne Lederfetzen gehüllt, die von Schnüren zusammengehalten wurden.
Ariana schaute langsam zu dem Ankömmling auf und betrachtete den gesenkten Kopf und das wirre, lange Haar, das ihm weit über die Schultern hing. Dass diese geschundene Gestalt ihr strahlender, heldenhafter Bruder von einst sein sollte, zerriss ihr schier das Herz. Als das Pferd schließlich neben Silas de Mortaine zum Stehen kam, hob Kenrick langsam den Kopf und verzog die aufgesprungenen Lippen zu einem gequälten Lächeln. »Sei gegrüßt, Ariana.«
»Kenrick.« Ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen, als sie seinen Namen nannte. Sie sah, wie zerschrammt sein Gesicht war, wie hager und bleich ihr früher so kräftiger Bruder geworden war, seitdem er sich in de Mortaines Gewalt befand. Hässliche Blutergüsse und schlecht verheilte, noch nässende Wunden verunstalteten seine Wangen und die Stirn. Sein rechtes Augenlid war angeschwollen, die Unterlippe aufgesprungen.
Ihr Bruder war in einem furchtbaren Zustand, doch noch hielt er ihren Blick mit derselben Furchtlosigkeit fest, die ihn immer ausgezeichnet hatte. Trotz der Qualen, die er offensichtlich während der Gefangenschaft hatte erleiden müssen, lag in seinen Augen ein Anflug von Zorn – ein Schimmer von Entschlossenheit. Körperlich mochte Kenrick beinahe gebrochen sein, aber sein Geist war unbeugsam geblieben.
Heiße Tränen traten Ariana in die Augen, als sie ihren Blick schweigend und bestürzt über die Gestalt ihres Bruders gleiten ließ. Dennoch hielt sie sich mit ihrem Mitgefühl zurück, wusste sie doch, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, ihren Empfindungen freien Lauf zu lassen. Im Moment musste sie all ihre Aufmerksamkeit auf Silas de Mortaine konzentrieren.
»Wie Ihr seht, ist er am Leben«, meinte der Ritter.
»Ja, mit Mühe und Not«, entgegnete Ariana scharf.
»Lasst uns nicht über Kleinigkeiten streiten.« Gebieterisch streckte er die behandschuhte Rechte aus. »Gebt mir die Tasche, Frau!«
»Ariana, tu es nicht.« Die Warnung kam Kenrick heiser über die geschwollenen Lippen. »Du darfst sie ihm nicht geben … «
De Mortaine warf dem Ritter, der Kenrick begleitet hatte, einen finsteren Blick zu, worauf dieser dem Gefangenen einen harten Schlag in das ohnehin schon geschundene Gesicht versetzte. Kenrick schwankte im Sattel, wandte den Blick aber nicht von Ariana ab. Unter den Schmerzen zusammenzuckend starrte er seine Schwester durch die stumpfe Haarsträhne hindurch an, die ihm ins Gesicht gefallen war. Bedeutungsvoll schüttelte er den Kopf, eine weitere stumme Warnung, dass Ariana den Entführern die Tasche nicht aushändigen durfte, ganz gleich, wie sehr er dafür leiden musste.
Sie bemühte sich, ruhiger zu atmen. »Lasst meinen Bruder frei, dann könnt Ihr die Tasche haben. Eher nicht.«
De Mortaines schroffes Auflachen jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. »Was ist das? Etwa eine neue Bedingung? Also wirklich, Ihr macht die Sache nur noch schlimmer. Nicht nur für Euren Bruder, auch für Euch selbst. Gebt mir die Tasche, dummes Weib … , vielleicht schenke ich euch beiden dann das Leben.«
»Glaub ihm kein Wort, Ana! Er hat vor, uns beide zu töten, ganz gleich … «
»Bring ihn zum Schweigen!«, donnerte de Mortaine mit höllischem Feuer in seinen seelenlosen Augen. Während einer der Wachen ein Schwert zog und Kenrick an die Kehle setzte, musterte de Mortaine Ariana mit kaltem, abschätzigem Blick. »Die Tasche, Frau. Wo ist sie?«
Ariana schüttelte den Kopf und weigerte sich, der nahezu überwältigenden Angst zu erliegen, die sie durchfuhr. »Lasst ihn sofort frei, oder Ihr werdet die Tasche nie bekommen.«
De Mortaines Gesichtsausdruck war so entschlossen, als spüre er ihre Furcht, aber das
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