Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
Kälte der frühen Morgenstunden setzte ihm zu. Er hasste es, im Freien zu übernachten, insbesondere dann, wenn die erbarmungslose Winterwitterung durch sämtliche Decken drang. Seinen Mitstreitern schien die Kälte hingegen nichts auszumachen. Geschöpfe des Teufels, dachte Draec voller Verachtung.
Sein Unmut richtete sich vor allem gegen Ferrand de Paris, den wieselartigen kleinen Franzosen, der bei Einbruch der Dämmerung zu der Gruppe gestoßen war. Als de Paris jetzt erfuhr, dass ihre Beute sich wieder auf den Weg gemacht hatte, zuckte seine Nase vor Aufregung. »Wie schön, dass dieses junge Ding aus Clairmont bald mir gehören wird. Wenn le Chasseur uns nicht in die Quere kommt, müsste es ein Leichtes sein, sie gefangen zu nehmen. Ich werde den anderen sagen, dass sie die Pferde bereit machen … «
»Setzt Euch, Ferrand.« Draecs gebieterischer Tonfall ließ den kleinen Kaufmann verstummen. »Hier gebe ich die Befehle – und ich rate Euch, das zu beherzigen. Ich werde die Frau aus Clairmont verfolgen, aber niemand wird sie anrühren. Sie soll nicht bemerken, dass ihr jemand auf der Spur ist. Wenn le Chasseur tatsächlich aufgebrochen ist, um den zweiten Stein des Kelchs zu finden – und darauf könnt Ihr Euren Kopf verwetten – , dann werden Lady Ariana und ihr Bruder uns direkt zu ihm führen.«
Draec erhob sich und streifte sich gemächlich die Lederhandschuhe über. Mit einem warnenden Blick in Ferrands Richtung schob er Steine und Schnee mit dem Stiefel auf die noch glimmenden Kohlen des Lagerfeuers. Dann ging er davon und gab den Befehl, die Pferde zu satteln.
22
Ein ungefähr eine Meile breiter Gürtel aus Watt und Marschland trennte die Stadt Avranches von der Insel, auf der das Benediktinerkloster Mont St. Michel stand. Man sagte, der Tidenhub sei hier höher und die Gezeiten stärker als an jedem anderen Ort der Welt. Die Flut setzte mit einer solchen Geschwindigkeit ein, dass es nicht einmal sicher war, dass ein Reiter in gestrecktem Galopp das andere Ufer erreichte. Unternahm jemand trotzdem den Versuch, den natürlichen Wattgürtel kurz vor der Flut zu überqueren, so lief er Gefahr, fortgespült zu werden und zu ertrinken – sofern er nicht zuvor schon in die gefährlichen Stellen mit Schlick geriet und versank.
Doch die Furcht vor dem Tod bei der Durchquerung des Watts hielt die Gläubigen nicht davon ab, die schillernden Granitfelsen des herrlichen Mont St. Michel zu besuchen. Die Pilger, ob jung oder alt, kamen in Scharen, um mit eigenen Augen den Ort zu sehen, an dem der Erzengel Michael gegen den Teufel gekämpft und ihn besiegt hatte. Es hieß, Wunder würden an diesem Ort geschehen, und der Legende nach hatte der heilige Michael selbst dem ersten Abt des Berges die Aufgabe erteilt, das heilige Bauwerk zu errichten. Der Ehrfurcht gebietende Ort war für fromme Christen aus aller Welt zu einer Pilgerstätte geworden.
Eine Gruppe dieser ehrfürchtigen Leute verließ in diesem Moment das Festland bei Avranches und machte sich auf den Weg durch den matschigen Wattgürtel. Bis zum Einbruch der Dämmerung waren es nur noch einige Stunden, eine gefährliche Zeit bei Ebbe, doch die Pilger, die sich gemeinsam auf den Weg machten, vertrauten auf ihren Glauben und klammerten sich an ihre langen Pilgerstäbe, als ihre dünnen Stiefel in den weichen Untergrund sanken.
Braedon saß ab und hielt sein Pferd am Zügel. Das scheue Tier schien sich nicht recht entscheiden zu können, ob der Weg zur Insel sich lohnte, und auch Braedon war sich nicht sicher. Geisterhaft ragte Mont St. Michel umhüllt von dichten Nebelschwaden in der Ferne auf: Das Gebilde aus steilem Fels, das bei Flut von abweisenden Wassern umspült wurde, wirkte wenig einladend. Und doch bestand die Aussicht, genau dort Calasaar zu finden, also machte sich Braedon auf den Weg und schloss sich den Pilgern an, die sich mit hymnischen Gesängen und gemurmelten Gebeten gegenseitig Mut zusprachen.
Die Gruppe hatte noch nicht ganz die Hälfte des Weges hinter sich, als ein Pilger in sein Horn stieß: ein Warnruf, den die beiden Reiter, die soeben von der Küste bei Avranches losgestürmt waren, jedoch nicht beachteten.
»Zurück!«, rief ein anderer, die Hände vor dem Mund zu einem Trichter geformt. »Ihr werdet es nicht mehr rechtzeitig schaffen!«
»Der heilige Michael möge ihnen beistehen – die Flut setzt schon ein!«
Doch die Reiter waren zu weit entfernt, um die Warnungen zu hören, und preschten schnell durch die
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