Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
»Setzt Euch«, sagte er und deutete auf den freien Platz auf der anderen Seite der Ruderpinne. »Ich beiße nicht, jetzt, da ich etwas anderes zum Kauen gefunden habe.«
Ariana war zwar nicht wohl dabei, so dicht neben ihm Platz zu nehmen, aber sie war froh, nicht mehr stehen zu müssen. Die kühle Brise tat ihr gut, aber so hoch über dem Deck wurde ihr schwindelig. Etwas ungelenk ließ sie sich auf der Bank nieder, als das Schiff eine dunkle Welle durchbrach und für einen kurzen Moment stark schaukelte. Braedon ließ die Ruderpinne los und griff nach Arianas Arm, um sie zu stützen.
Wo seine Hand ihren Arm umschloss, durchströmte sie ein warmes Gefühl. Als sie seinen eindringlichen Blick spürte und sich bewusst machte, wie nah ihr sein Körper war, begann sie nervös auf der Bank hin und her zu rutschen. Sie wollte ihn gerade bitten, sie loszulassen, da zog er die Hand von selbst zurück und lehnte sich an die Bordwand, so als habe er in ihren Augen ihre Gedanken gelesen.
»Was gefällt Euch nicht an Frankreich?«, fragte sie leise.
Er zuckte kaum merklich die Schultern. »Ich habe nichts gegen Frankreich. Immerhin bin ich dort geboren.«
»Aber Ihr wollt nicht dorthin zurückkehren?« Auf seinen fragenden Blick hin ergänzte sie: »In den Docks heute früh sagtet Ihr, Frankreich sei der letzte Ort, den Ihr aufsuchen würdet.«
»Nein, ich sagte, es sei der letzte Ort, zu dem ich einen Passagier bringen würde.«
»Was ist der Unterschied?«
Er schnaubte. Diese Art der Unterhaltung sagte ihm nicht zu, offenbar war es ihm lieber, wenn er derjenige war, der die Fragen stellte. »Nun, es gibt einen Unterschied.«
»Hat es etwas damit zu tun, was Eurem Freund Robert widerfahren ist?«, hakte sie nach, obwohl sie wusste, dass es sie eigentlich nichts anging. Doch mittlerweile war sie zu neugierig, um sich an die Gebote der Höflichkeit zu halten. »Oder hat es damit zu tun, was Euch angetan wurde … mit der Narbe?«
Er starrte sie finster an und stieß zischend den Atem aus. »Ihr stellt wirklich eine Menge Fragen, Ariana of Clairmont. Ich muss schon sagen, dass mir Eure schweigende Gesellschaft besser gefallen hat.«
»Es tut mir leid. Ich wollte mich nur … unterhalten.«
»Ich hatte jetzt genug Unterhaltung, Madame.«
Er schaute zum Himmel hinauf und schob die Ruderpinne ein Stückchen nach links. Mit Ariana sprach er kein Wort mehr.
Sein Schweigen verunsicherte sie so, dass sie schließlich aufstand. »Ich würde lieber nach unten gehen«, sagte sie. »Ihr habt bestimmt zu tun.« Sie folgte seinem Blick zum Himmel und zog die Stirn kraus. »Was genau macht Ihr da eigentlich?«
»Den Nachtsprung.«
»Wie bitte?«
»Wir springen durch die Nacht«, sagte er, als sie ihn verständnislos ansah. »Die Nordmänner nannten es ›Nachtsprung‹, wenn sie ihre Schiffe durch die Nacht steuerten und sich dabei nach den Sternen richteten. Sie sprangen durch die Nacht, wenn sie in der Dunkelheit Zeit auf ihren Fahrten gewannen.«
Seine Worte begannen sie zu fesseln. »Und das tun wir auch jetzt?«
Er nickte und schaute noch immer zum Himmel. »Seht Ihr den Stern dort?« Er deutete nach oben und lenkte ihren Blick auf einen hellen Fleck. »Der genau über der Mastspitze steht?«
Ariana beugte sich vor, um mit ihrem Blick der Richtung seines ausgestreckten Arms folgen zu können. »Ja, ich sehe ihn.«
Sie war so fasziniert von diesem neu erworbenen Wissen, dass sie es plötzlich nicht mehr beängstigend fand, wie nah sie ihm auf einmal war. So dicht, dass sie glaubte, seine Wärme durch die Wolldecke und ihren Mantel hindurch zu spüren. Die Sterne und die wundersamen Dinge am Firmament hatten sie so sehr in den Bann gezogen, dass sie ihre Angst vor diesem Mann vergaß.
»Wenn der Polarstern immer an der Spitze des Masts steht, können wir die gesamte Nacht hindurch unseren Kurs nach Frankreich beibehalten«, erklärte er mit leiser und beruhigender Stimme. Dennoch erschrak sie, als er plötzlich aufstand und ihre Hand ergriff.
»Was habt Ihr … ?«
»Hier«, sagte er und legte ihre Hand auf die Ruderpinne. »Übernehmt für eine Weile das Steuerruder. Ihr braucht nur den Stern im Blick zu behalten, und schon haltet Ihr den Kurs.«
»Oh! Nein, das kann ich nicht!«
Aber Braedon hatte bereits das Steuerruder losgelassen, und so lenkte Ariana das Schiff allein über die See und spürte die Macht des Wassers am Ruderblatt, während die Kogge die Wellen durchschnitt. Das Gefühl war berauschend,
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