Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
sie ihm verschwiegen haben mochte. Er zwang sich, dem alten Handwerker zuzuhören, der das zerrissene Segel fachmännisch begutachtete und sich lang und breit darüber ausließ, was getan werden müsse, doch er spürte, dass sein Verlangen nach dieser Frau immer stärker wurde und ihn nicht mehr losließ.
»Wie lange braucht Ihr, um das Segel zu flicken?«, fragte er. Es behagte ihm nicht, den alten Mann zu unterbrechen, aber er konnte es in dem engen Raum nicht länger aushalten. Mittlerweile musste eine Stunde vergangen sein. Wenn schon nicht die Neugierde allein ihn zu der Schenke zurücktrieb, dann auf jeden Fall eine beunruhigende Vorahnung, die ihn plötzlich beschlich.
»Ihr könnt es kaum abwarten, Calais wieder zu verlassen, wie?« Der weißhaarige Segelmacher kicherte, als er das Richtmaß und die Kreide beiseitelegte. Aus trüben, wässrigen Augen musterte er Braedons Gesicht, kaum beeindruckt von der grausamen Narbe. »Wohin zieht es Euch, dass Ihr bei diesem furchtbaren Wetter unbedingt auslaufen wollt?«
Intuitiv beschloss Braedon, ihm nicht das wahre Ziel zu nennen. »Nach Cherbourg«, sagte er. Das Fischerdorf lag viele Meilen von Honfleur entfernt. »Dort gibt es Arbeit für mich.«
»Ah, verstehe. Und Eure Frau?« Als Braedon ihn ausdruckslos ansah, lächelte der alte Mann und tippte sich mit einem knöchrigen Finger an die Schläfe. »Meine Augen mögen alt sein, aber nicht so alt, als dass ich nicht mehr beobachten kann, was in meinem Hafen vor sich geht. Mir ist nicht entgangen, dass Ihr mit Eurer Dame angelegt habt. Sie ist sehr hübsch, Sir. Ihr dürft Euch glücklich schätzen, in der Tat.«
Braedon schnaubte und ignorierte die Kommentare zu Arianas Schönheit und seiner Beziehung zu ihr. »Das Segel«, wiederholte er. »Könnt Ihr es morgen früh fertig haben?«
» Oui, Monsieur. Ich werde mich gleich daran … « In den Dachbalken waren leise, huschende Trippelschritte zu vernehmen. »Verfluchte Ratten!«, schimpfte der alte Mann und schaute blinzelnd nach oben in die Schatten des Gebälks. »Ich habe eine Katze, aber denkt Ihr, das faule Stück würde sich die Mühe machen, diese Biester zu fangen? In den fünf Jahren, die sie schon bei mir lebt, hat sie sich nicht eine gepackt, das nutzlose Vieh.«
Auch Braedon wandte seinen Kopf nach oben und lauschte dem Geräusch, das von einem Ende des langen Stützbalkens zum anderen gewandert war. Er hätte schwören können, im Schein des Feuers zwei rot glühende Augen bemerkt zu haben, bezweifelte es im nächsten Moment aber bereits wieder. »Ich komme dann morgen«, sagte er zu dem Segelmacher. »Im Morgengrauen, sofern die Zeit Euch reicht, um die Arbeit zu verrichten.«
»Natürlich, Monsieur. Alles wird fertig sein.« Der alte Claude nickte, war aber mit den Gedanken noch immer bei dem Ungeziefer, das sich in sein Haus geschlichen hatte. Seine Miene verriet Entschlossenheit, als er ein Ruder nahm, das an einer Wand lehnte, und damit in eine Ecke des Ladens schlurfte. Braedon, der nicht vorhatte, Zeuge dieser Jagd zu werden, betrat die verschneite Straße und hatte gerade die Tür hinter sich geschlossen, als das Ruder mit einem lauten Knall niedersauste. Der darauffolgende Fluch ließ darauf schließen, dass dem alten Mann seine Beute entwischt war.
In der engen Gasse vor dem Laden des Segelmachers fiel der Schnee wie leiser weißer Regen aus grauen Wolken. Er gefror in den kleinen Seitenstraßen und legte sich auf die Fachwerkhäuser, die den Hafen säumten. Kaum jemand war noch im Freien unterwegs, obwohl es noch nicht einmal dunkel war und der heftige Sturm sich ein wenig gelegt hatte.
Der überfrorene Matsch in den Straßen vor der Schenke knirschte unter Braedons Stiefeln. Seine Schritte waren die einzigen Laute, abgesehen von den Geräuschen der Schiffe, die am Dock festgemacht waren. Die nagende Unruhe, die er fühlte, seit er die Schenke verlassen hatte, war nicht verflogen. Ganz im Gegenteil: Sie hatte sich auf dem Rückweg noch verstärkt.
Und noch etwas anderes beschäftigte ihn. Er hatte plötzlich das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden.
Bislang war ihm auf dem Weg zur Schenke niemand begegnet, doch dieser Umstand konnte sein Unbehagen nicht lindern. Auf einmal wusste er, dass sich jemand in seiner Nähe aufhielt, das sagte ihm sein Gefühl. Er wurde verfolgt, dessen war er sich jetzt sicher. Jemand belauerte ihn – abwartend, ihn nicht aus den Augen lassend.
Aber warum?
In Calais herrschte immer viel
Weitere Kostenlose Bücher