Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
oder eher eine Karte. Obwohl sie nicht von der geschulten Hand eines Kartografen ausgeführt worden war, erkannte Braedon in der Zeichnung sofort die Küstenlinie Englands. Mehrere Orte waren markiert: Cornwall, Glastonbury und ein Gebiet in den Wäldern von Cheshire. Die Orte waren durch eine Linie verbunden, und daneben befanden sich Zahlenreihen und Berechnungen unterschiedlichster Art. Rasch blätterte er weiter und entdeckte weitere Zahlen, unverständliche Texte, Zeichnungen und seltsame Figuren.
Dann sah er es.
Ein Pergament, das fast vollständig von den anderen Schriftstücken am Boden verdeckt wurde. Braedons Blick fiel auf dem vergilbten Blatt auf die Umrisse eines Gegenstands, und das Blut gefror ihm in den Adern. Er bückte sich und hob den Bogen langsam auf.
Da war es, deutlich sichtbar.
Ein verzierter Kelch. Er war mit schwarzer Tinte gezeichnet und in der Ausgestaltung so genau gehalten, dass ein Zweifel unmöglich war. Braedon entdeckte den gemalten Drachen, der sich um den Fuß des Kelchs wand. Die Farbgebung ließ das Gefäß förmlich glühen, Lichtstrahlen entsprangen den vier kostbaren, in den Kelch eingearbeiteten Steinen. Steine, von denen es hieß, sie besäßen eine Macht, die sich jedem Vorstellungsvermögen entziehe. Kräfte, die ewiges Leben, unaufhaltsame irdische Macht und grenzenlosen Reichtum verhießen.
Braedon musste sich anstrengen, den Zorn nicht in seiner Stimme zu offenbaren. »Wisst Ihr, was das ist, Ariana?«
»Ich … ich bin mir nicht sicher. Die Aufzeichnungen gehören Kenrick.«
Mit einem Fluch auf den Lippen wandte er ihr den Kopf zu und musterte sie durchdringend. Ariana zitterte noch immer. Ihre Augen funkelten vor Empörung über seine Rücksichtslosigkeit, aber es lag keine Lüge in ihrem Blick.
»Ich schwöre Euch, Braedon, ich weiß nicht, was all das zu bedeuten hat. Kenrick hat die Schriften immer geheim gehalten.«
»Dann sind dies also tatsächlich die Aufzeichnungen Eures Bruders?«
»Ja.« Sie nickte ernst. »Ich weiß lediglich, dass mein Bruder getötet wird, wenn ich diese Tasche nicht nach Rouen bringe.«
»Von wem?«
»Ich weiß es nicht.«
Er stieß ein raues Lachen aus.
»Ich schwöre, dass ich es nicht weiß. Kenrick war bereits hier in Frankreich, als er als Geisel genommen wurde. Diese Tasche ist sein Lösegeld.« Als Braedon das Pergament wieder zu Boden fallen ließ, legte Ariana ihm eine Hand auf den Arm und bat ihn, ihr weiterhin zuzuhören. »Sie schickten eine Nachricht nach Clairmont, in der sie Kenricks Gefangennahme mitteilten. Niemand darf von den Schriftstücken erfahren – so lautete die Anweisung, Braedon. Sie sagten, ich solle allein alles bis zum nächsten Vollmond nach Rouen bringen, ansonsten würde ich meinen Bruder nicht lebend wiedersehen.«
Braedon erwiderte nichts. Tatsächlich fehlten ihm die Worte.
»Das ist die Wahrheit«, betonte Ariana, als er ihre Kleidung nahm, die vor dem Feuer trocknete. »Nun wisst Ihr genauso viel wie ich.«
»Bei Gott, dem Allmächtigen.« Die Ironie der ganzen Sache war kaum begreiflich, Braedon hätte laut auflachen mögen. »Was für ein verfluchtes Spiel.«
»Seitdem wir einander begegnet sind, bedrängt Ihr mich mit Fragen, und jetzt, da Ihr die Antwort kennt, glaubt Ihr mir immer noch nicht?«
»Doch, Madame. Doch, ich glaube Euch.«
Er reichte Ariana ihr Kleid und das dazugehörige Hemd. Dann wanderte sein Blick zurück zu den Aufzeichnungen, die verstreut auf dem Fußboden lagen. Womöglich enthielten die mysteriösen Papiere den Schlüssel zu einem ansehnlichen Vermögen.
Es ging um den Drachenkelch.
So viel war eindeutig.
Der Kelch war der Stoff, aus dem Legenden gemacht wurden, und war Thema einer Volkssage, die ihren Anfang einige Hundert Jahre vor Braedons Geburt genommen hatte. Das Gefäß war nur wenig mehr als Mythos und Magie, manch einer hatte von ihm geträumt, doch nie war bewiesen worden, ob es den Kelch tatsächlich gab – nur eine kleine, entschlossene Gruppe von Mächtigen hatte den Glauben an den Drachenkelch nie aufgegeben.
Braedon musste es wissen.
Früher war er einer von ihnen gewesen.
8
»Zieht Euch an, Ariana. Schnell.«
Braedons Worte klangen wie ein Befehl. Sie ärgerte sich über den scharfen Tonfall und verübelte ihm immer noch, dass er ohne Ankündigung in die Kammer gestürmt war. Nun verletzte er erneut ihre Privatsphäre. Nachdem er ihr die restlichen Kleidungsstücke gereicht hatte, trat er an das einzige Fenster und spähte durch
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