Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
Erleichterung und Angst. Sie hatte es geschafft.
Sie war an dem Ort angelangt, an dem Kenrick gefangen gehalten wurde, aber als sie die Stadt dort unten im Tal erblickte, konnte sie sich eines nagenden Kummers nicht erwehren. Was würde sie hier für ihren Bruder tun können, da sie sein Auslösepfand bereits an seine Entführer verloren hatte? Ihr war nichts mehr zum Verhandeln geblieben, und wie sollte sie sich rechtfertigen, wenn Draec le Nantres seinem Auftraggeber berichtete, dass die Karte vernichtet worden war?
Die Verzweiflung stand ihr offenbar ins Gesicht geschrieben, denn als sie sich auf der Bank zurücklehnte, sobald der Wagen den Weg hinunter ins Tal fuhr, tätschelte die Frau aufmunternd Arianas Hand. »Ich bete, dass es Eurem Bruder bald wieder besser geht, jetzt, da Ihr hier seid, um Euch um ihn zu kümmern«, sagte sie und erinnerte Ariana damit an die Geschichte, die sie den arglosen Leuten aufgetischt hatte, als sie der Familie bei ihrer Flucht aus dem Schankraum geradewegs in die Arme gelaufen war.
Da sie so nah wie möglich bei der Wahrheit bleiben wollte, hatte sie dem Paar erzählt, sie habe eine Nachricht erhalten, dass ihr Bruder, der weit weg von zu Hause den Templern diente, gegenwärtig in einer ernsten Notlage und bei schlechter Gesundheit sei und dringend Hilfe benötige. Sie hatte gehofft, die Pilger würden ihr die erfundene Geschichte glauben und sie ein Stückchen mit sich reisen lassen. Doch jetzt, als Rouen immer näher kam und das große Stadttor wie ein düsteres Untier mit weit aufgerissenem Rachen aus dem Nebel auftauchte, machte Ariana sich mit wachsender Sorge bewusst, dass ihre Geschichte von dem hilfsbedürftigen Bruder gar nicht so weit von der fürchterlichen Wahrheit entfernt lag.
»Gott wird nicht zulassen, dass er leidet, ma petite «, fuhr die Frau fort. »Schon gar nicht, wenn Euer Bruder dem Herrn dient.«
Ariana nickte beklommen und hoffte im Stillen, die gute Frau möge recht behalten. Sie selbst hatte keine Ahnung, wie sie Kenrick allein und ohne angemessenes Lösegeld befreien sollte. Vielleicht war es albern von ihr zu glauben, sie habe noch eine Chance, aber was anderes blieb ihr übrig als die Hoffnung? Sie wusste nicht, wem sie noch vertrauen durfte – Braedon gewiss nicht. Sie schluckte schwer, als sie einen Stich in ihrem Herzen verspürte.
Jetzt war sie ganz auf sich allein gestellt, und da sie nicht an Wunder glaubte, gab es eigentlich keinen Grund zu hoffen, sie könne Kenrick noch retten. Während die Kutsche vorbei an einer herrlichen Kathedrale in die Stadt rumpelte, wurde Ariana bewusst, dass ihr jetzt nur noch göttlicher Beistand helfen konnte.
Braedons Stimmung hatte sich während der Nacht nicht verbessert. Er hatte die Schenke kurz nach Ariana verlassen, sein Pferd aus dem Stall geholt und war der Familie gefolgt, die Ariana in der Kutsche mitgenommen hatte. Auf Abstand bedacht hielt er sich hinter ihnen. Schließlich brauchte er Ariana nicht zu sehen, um zu wissen, wo sie sich gerade befand oder wohin sie sich wandte. Während sein Pferd gemächlich durch die nächtliche Landschaft stapfte, dachte Braedon mehr als ein Mal daran, dem Tier die Sporen zu geben, Ariana einzuholen und sie zu zwingen, ihm zuzuhören. Aber was sollte er ihr sagen? Alles, was Draec ihm vorgehalten hatte, entsprach der Wahrheit.
Die Verachtung, die Ariana ihm nun entgegenbrachte, war nachvollziehbar, insbesondere da er sie verführt hatte. Noch immer sah er den Schmerz in ihren Augen, den ungläubigen Blick, als er all ihre Hoffnungen, ihren Bruder zu retten, mit seinen Worten zunichtegemacht hatte.
Kenrick wird sterben für das, was du getan hast … Ich will dich nie wiedersehen!
Ihre tränenerstickte Anschuldigung hallte in seiner Erinnerung wider. Sie hasste ihn, und das mit Recht. Sie war verzweifelt – vermutlich noch verzweifelter als an dem Tag, als er sie zum ersten Mal in London gesehen hatte – , doch in ihrem Blick hatte auch unbändiger Trotz gelegen. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen, ganz gleich, welche Hindernisse sich ihr in den Weg stellten. Nicht Ariana. Aber was würde sie tun? Er hasste es, darüber nachzudenken. Inzwischen kannte er sie zu gut, um zu vermuten, dass sie zurück nach Hause fahren würde. Sie war entschlossener denn je und bereit, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um ihren Bruder zu retten.
Ein selbstsüchtiger, berechnender Teil von ihm drängte ihn, das Pferd herumzureißen und nach Calais zu reiten.
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