Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
Dort könnte er mit seiner Kogge in die Richtung segeln, die ihm eigentlich vorgeschwebt war, bevor Ariana ihm über den Weg gelaufen war und ihn in dieses Unheil verwickelt hatte. Was war er ihr nun noch schuldig?
Er zügelte sein Pferd und warf einen Blick über die Schulter in die Richtung, in der Calais lag – es war der weitaus einfachere Weg. Vielleicht sollte er ihn einschlagen, schließlich spürte er, dass das, was ihn in Rouen erwartete, nichts Gutes sein konnte. Vielleicht würde er sogar sterben. Er war zwar kein Feigling, aber er gefiel sich auch nicht in der Rolle des Narren. Vor achtzehn Monaten war er nur knapp dem Tod entronnen; diesmal war ihm womöglich kein so glückliches Ende vergönnt.
Aber da war noch Ariana.
Wenn ihn in Rouen Ärger erwartete, dann war auch Ariana in Gefahr. Und diese Gefahr war umso größer, da Ariana auf sich allein gestellt war. Beim Allmächtigen, so weit durfte er es nicht kommen lassen. Narr hin oder her, sie durfte sich nicht für ihren Bruder opfern.
Mit einem Fluch auf den Lippen trieb Braedon sein Pferd zum gestreckten Galopp an. In welche unheilvollen Situationen Ariana auch immer geraten würde, er wollte bei ihr sein, wenn sie sich ihrem Schicksal stellte.
Angesichts der hoch in den Himmel ragenden, prachtvollen Kathedralen in Rouen nahm sich die niedrige, aus einfachem Stein erbaute Kirche bescheiden aus. Das kleine Gotteshaus stand am Ende einer gepflasterten Straße neben hohen Fachwerkhäusern und im Schatten anderer, hoher Kirchenbauten. Ariana steuerte auf das Portal zu, wobei sie aufpasste, möglichst nicht noch einmal in die von dünnem Eis überzogenen Pfützen zu treten, die schon ihre Stiefel und den Saum ihres Kleids durchnässt hatten. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze, um die beißende Morgenkälte abzuwehren, blinzelte sie durch die tänzelnden Schneeflocken hindurch.
Sie fror furchtbar, doch ihr war auch bewusst, dass die Kälte in ihren Gliedern weniger von der Witterung als vielmehr von der nagenden Ungewissheit herrührte. All ihre Hoffnungen ruhten auf der kleinen Kirche am Ende der Gasse, wusste sie doch nicht, wohin sie sich stattdessen wenden sollte. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen, sprach ein kurzes Gebet und betrat den kleinen Kirchhof durch ein eisernes Tor. Mit der behandschuhten Rechten hob sie den ehernen Türklopfer der schlichten Tür und klopfte unsicher.
Lange Zeit horchte sie in die Stille hinein. Durften Besucher überhaupt bis hierhin vordringen? Sie hatte keine Ahnung, ob die kämpfenden Mönche dieser Kirche überhaupt eine Frau vor ihrer Türschwelle dulden würden, schließlich wusste sie nur wenig über die Ordensregeln. Womöglich würden die Brüder sie fortschicken oder ihr keine Beachtung schenken.
Aber Ariana wollte sich nicht einschüchtern lassen. Wahrscheinlich wurde ihr Bruder in unmittelbarer Nähe dieser Kirche festgehalten. Erneut griff sie nach dem Klopfer und schlug ihn diesmal fester gegen das Holz. Einen Moment später – ihr forderndes Anklopfen war im Gebäude verhallt – öffnete sich die Tür einen Spaltbreit nach Innen, sodass ein langer Strahl des Morgenlichts in die von Weihrauch erfüllte Dunkelheit im Innern fiel.
»Ja?« Ein junger Geistlicher mit kurz geschorenem Haar und Schnauzbart erschien an der Tür und spähte mit wachen, runden Augen hinaus. Als er Ariana erblickte, stieß er einen Laut des Erstaunens aus und betrachtete sie mit Neugierde, bevor er sittsam die Augen zu Boden schlug. »Oh, wünsche einen guten Morgen. Ihr seid bestimmt wegen der Almosen gekommen, Madame? Ihr müsst wissen, dass Bruder Etienne die Armenkollekte bereits fortgebracht hat. Euch einen guten Tag noch.«
Damit nickte der Mann Ariana zum Abschied unterwürfig zu und wollte sich wieder in das Innere des Gebäudes zurückziehen. Doch Ariana legte eine Hand auf das eisenbeschlagene Eichenholz, ehe ihr die Tür vor der Nase zufallen konnte. »Nein, wartet bitte. Ich bin nicht wegen der Kollekte hier. Ich bin gekommen, da ich … « Sie zögerte und überlegte, wie sie ihre sonderbare Lage am besten erklären konnte. »Bitte. Mein Bruder ist in Gefahr. Ich … ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Ich brauche Hilfe.«
Der junge Mönch hob kaum merklich den Blick, als sei es verboten, eine Frau länger als einen Moment anzusehen. Doch Ariana interessierte das nicht. Sie hatte nicht die Zeit, über geheime Ordensregeln nachzugrübeln. Als der Geistliche Entschuldigungen
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