Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
mir und spring. Hier drüben ist es sicherer für dich.
Braedon wog den Ratschlag ab, doch Zweifel regten sich in ihm. Er fühlte sich sicher, wo er war: auf festem Boden. Unter ihm in der Schlucht gähnte der Schlund des Todes – schwarz und kalt, mit Hunderten von gezackten Zähnen, die ihn rücksichtslos aufspießen würden, sollte er den Sprung wagen. In der Tiefe war sein Ende vorgezeichnet. Dort drüben jedoch, wo der weiße Wolf saß, erwarteten ihn nur Fragen und der Nebel, in den er springen musste, ohne Gewissheit auf eine sichere Landung zu haben.
Tief in seinem Innern vertraute er der Wölfin – sie war stets seine Gefährtin gewesen, eine stille Beschützerin des Jungen, der er früher gewesen war – , aber er wusste auch, dass es kein Zurück mehr gab, wenn er jetzt ihrer Aufforderung folgte …
»Braedon.«
Zart und flehentlich vernahm er eine Stimme, die nach ihm rief. Am Abgrund der Schlucht blieb er stehen und war im Begriff, den Sprung zu wagen, als er sie erneut hörte: Arianas Stimme, nicht mehr als ein Wispern an seinem Ohr.
»Braedon … geht es dir gut?«
Ruckartig fuhr er aus dem Schlaf hoch und blickte in Arianas besorgtes Gesicht. Mit krauser Stirn beugte sie sich über ihn und berührte ihn sanft mit einer Hand an der Brust.
»Ich wollte dich nicht wecken, aber du hast schwer geatmet – als würdest du rennen und müsstest nach Luft ringen. Hattest du einen Albtraum?«
»Nein«, sagte er und versuchte die Überreste des sonderbaren Traums abzuschütteln. »Es war nichts. Ich hätte nicht so lange schlafen sollen.«
»Du schläfst doch sowieso kaum, so wie ich dich bisher kenne.«
Ariana und er lagen eingehüllt unter den Pelzdecken, die ihnen als notdürftiges Lager dicht am Feuer gedient hatten. Die ersten matten Strahlen der Morgendämmerung warfen einen rötlichen Schimmer auf ihr Haar, als sie ihn zärtlich streichelte. So angenehm es auch war, ihre Hand zu spüren, Braedon löste sich aus ihrer Umarmung und setzte sich auf. In Gedanken war er bereits mit der Aufgabe beschäftigt, die sie nun zu bewältigen hatten. »Wir haben heute Morgen noch viel zu tun. De Mortaine muss unsere Bedingungen für Kenricks Freilassung erhalten, und anschließend werden wir uns auf das Treffen vorbereiten.«
»Natürlich«, pflichtete ihm Ariana bei. »Denkst du, das Treffen sollte in Rouen stattfinden?«
Braedon schüttelte den Kopf und dachte nach. »Nein. Wir wären im Vorteil, wenn wir hierblieben. Wir werden den Schutz der Dunkelheit brauchen, wenn der Austausch stattfindet.«
»Hast du schon einen Plan, wie wir Kenrick befreien können?«
»Ja, er ist zwar riskant«, räumte er ein, »aber ich habe alle Alternativen durchdacht und sehe keine andere Möglichkeit.« Er strich ihr mit den Fingern über die Stirn, nur eine flüchtige Liebkosung, die dennoch warm und zärtlich war. »Komm. Fangen wir an. Wir werden de Mortaine eine weitere Botschaft zukommen lassen und ihm mitteilen, wie er sich heute Abend zu verhalten hat. In der Zwischenzeit musst du mir helfen, so viel Brennholz wie möglich zu sammeln.«
Ein gleißendes Licht, das in seinen Augen schmerzte, flutete die dunkle Zelle, als die schwere Tür sich ächzend öffnete. Schnell wandte Kenrick of Clairmont den Blick von der grellen Lichtquelle ab und schloss die Augen. Mit dem rechten Arm wollte er sich zusätzlich vor der Helligkeit schützen, doch die Kette erinnerte ihn mit einem metallenen Klirren an die Eingeschränktheit seiner Bewegung.
Als man ihm anfangs die eisernen Fesseln an Händen und Füßen angelegt hatte, hatten sie die Haut an seinen Gliedern aufgeschürft. Immer wieder hatte er seinen Zorn an ihnen ausgelassen und wie ein feuriger Hengst gegen die Banden aufbegehrt. Jetzt, nach so langer Zeit – inzwischen mussten Monate ins Land gegangen sein – vergaß er sogar manchmal, dass er gefesselt war. Erst wenn er den Fehler machte, sich in der Zelle bewegen zu wollen, fühlte er wieder, wie die Ketten in seine Haut schnitten. Sein Handgelenk brannte von der Abschürfung, die er sich eben zugezogen hatte. Blut rann ihm über den Unterarm: nur eine weitere Verletzung, seine Haut war bereits von vielen anderen eiternden Wunden entstellt.
Bevor die Tür zur Zelle aufgeschwungen war, hatte er bizarre, sinnlose Dinge geträumt, nicht die üblichen Albträume, die ihn sonst während der Gefangenschaft heimsuchten. Stattdessen war ihm im Traum ein riesiges Seeungeheuer erschienen, das mit weit aufgerissenem Maul
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