Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
»Kann nichts mehr sehen … kann … nicht mehr … atmen.«
»Die Kräuter haben Euch nun ganz vereinnahmt«, sagte sie, als sie sein wirres Gemurmel hörte. »Ruht Euch aus. Die Kräuter wirken schneller, wenn Ihr Euch wehrt.«
Ein letztes Mal versuchte er, sich aufzubäumen, aber seine Kräfte schwanden nun immer mehr. Schwer atmend und mit verzweifelt verkrampfter Miene sank er zurück auf die Matratze. »Törichte Närrin! Ihr lasst … de Mortaine gewinnen«, stieß er mühsam hervor, und ein hell auflodernder Zorn lag in seinen Augen. »Ihr habt ja keine Vorstellung … er wird … zerstören … brauche … muss den Drachenkelch haben … «
Die Kräuter bekamen schließlich die Oberhand; träge verdrehte er die Augen, in immer schnellerer Folge fielen ihm die Lider zu, als hätten seine schwarzen Wimpern ein ungeheures Gewicht. Die Muskeln in seinen Armen erschlafften, und die letzten Worte, die er noch mühsam zustande brachte, gingen in einem tiefen Atemzug unter.
Beim Allmächtigen, sie hatte es tatsächlich vollbracht. Der Drachenherr war besiegt.
»Schlaft gut, le Nantres.«
Jetzt musste sie nur noch das Siegel finden.
Rasch durchsuchte Haven den schlafenden Ritter. Sie leerte die Beutel an seinem Schwertgehenk, tastete dann unter seiner Tunika ein wenig herum und hoffte, sie möge recht behalten, dass er das Siegel auch wirklich bei sich trug. Schließlich fühlte sie ein dünnes Lederband, das sich le Nantres um den Hals gehängt hatte. Voller Spannung folgte sie dem dünnen Bändchen, das sich beim Aufbäumen des Ritters verdreht hatte.
Ein Lächeln ließ ihre Züge erstrahlen, als sich ihre Hand um kühles Metall schloss. Ein kräftiger Ruck, und der Gegenstand löste sich von dem Lederband.
Sie zog das Siegel unter der Tunika hervor, hielt es an die Kerze und betrachtete das eingravierte Muster, das ihr Kenrick vor einigen Tagen beschrieben hatte. Zwei Kreise, die einander überschnitten, mit einem Kreuz in der Schnittfläche der Linien.
Nach der schmerzlichen Trennung von Kenrick und seiner Familie spürte Haven zum ersten Mal wieder Hoffnung aufkeimen. Das Metallsiegel fest in der Hand, stürmte sie aus dem Raum.
29
Es war Kenrick schon schwergefallen, Haven tagsüber aus seinen Gedanken zu verbannen, aus seinen Träumen allerdings ließ sie sich nicht vertreiben. Er träumte von ihrem Lächeln, ihrem nachdenklichen Blick, ihrem schönen Gesicht und ihrem verführerischen Leib, der das Herz einer Zauberin verbarg.
Während des Tages, wenn er an ihren Verrat und an seine eigene Dummheit dachte, ließ er seinem Zorn freien Lauf.
Sie hatte ihn wie einen Narren dastehen lassen.
Er, der Gelehrte, ein Mann der Logik und Vernunft, hatte sich von schönen Lügen und vorgetäuschten Gefühlen bezwingen lassen. Er sollte sie verachten, und tatsächlich regte sich so etwas wie Hass in ihm. Dass sie sich vermutlich in diesem Augenblick mit dem Feind verbündete, reichte schon aus, um seinen Zorn aufs Neue zu entfachen.
Sie selbst war der Feind, ermahnte er sich immer dann, wenn er spürte, dass er schon wieder genau der Frau zugetan war, die hilflos auf der Klippe gelegen hatte, angewiesen auf seinen Schutz.
Während des Tages zwang er sein Herz, sich von dieser Frau zu lösen, aber in der Nacht, wenn er die Augen schloss und sie vor sich sah – verlockend und sinnlich, wie sie ihm erschienen war, bevor er die Wahrheit erfahren hatte – , wollte er die Hand nach ihr ausstrecken. Liebend gern hätte er sie an sich gezogen, um nur noch ein einziges Mal von ihren süßen Lippen zu kosten. Doch er schien nichts gelernt zu haben, denn selbst im Traum war es immer dasselbe.
Sogar in seinen Träumen machte sie ihn zum Narren und lachte lautlos, wenn sie sich in Nebel auflöste und sich seinen Fingern entzog.
In dieser Nacht, als Rand in der Kapelle auf dem Tor Wache hielt und Kenrick im Freien sein Lager aufgeschlagen hatte, näherte sich Haven ihm mit kummervoller Miene. Er spürte, wie sie ihm sacht über die Wange streichelte und ihn noch tiefer in seinen Traum hineinzog. Sein Geist war dämmrig und müde, und doch sah er Haven so klar und deutlich wie zuvor: Sie kniete neben ihm im weichen Gras, das Mondlicht fing sich in ihren Locken, die ihr weit über die zierlichen Schultern fielen.
Er hätte sie für eine Engelserscheinung gehalten, wären da nicht ihre Tränen gewesen.
Stumm blickte sie auf ihn herab, Tränen schimmerten in ihren Augen. Eine einzelne Träne löste sich und lief
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