Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
treffen.«
Havens Arme waren schwer wie Blei, ihr ganzer Leib war wie ausgezehrt. Mit letzter Kraft hielt sie sich im Sattel und klammerte sich an die Zügel des Pferdes, das zuvor einem der Gestaltwandler gehört hatte. Das Tier trabte durch das Marschland, das sich am Fuße des Heiligen Hügels erstreckte.
Sie verspürte einen Stich im Herzen, als sie sich bewusst machte, dass sie Kenrick verlassen hatte, ohne Lebewohl zu sagen. Aber sie wusste, dass sie ihn nicht hätte verlassen können, wenn sie noch länger gewartet hätte.
Denn sie musste fort.
Es ging ihr nicht um ihre eigene Sicherheit, aber jetzt, da sie ein Schatten war, würde es keine Zuflucht für sie oder diejenigen, die ihr am Herzen lagen, mehr geben. Sie zu finden und zu vernichten, war nun das Ziel eines jeden Abgesandten Anavrins, der auf der Suche nach dem Drachenkelch war und auf Geheiß Silas de Mortaines jede Ortschaft und jeden verschlafenen Weiler durchkämmte.
Ihre Liebe bedeutete nun den Tod.
Was auf Greycliff Castle geschehen war, war schrecklich; und dasselbe Schicksal würde auch Kenricks Burg ereilen, da sie, Haven aus Anavrin, gegen die Gesetze ihres Volkes verstoßen hatte.
Dieser unerträgliche Gedanke trieb sie jetzt voran. Sie ließ das Pferd schneller laufen und lenkte es auf den befestigten Weg, der von Glastonbury Tor wegführte.
Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte, und konnte nicht abschätzen, wie lange sie sich noch im Sattel würde halten können, da ihre Kräfte aufgezehrt waren. Das Trugbild, das sie in der Kapelle zustande gebracht hatte, hatte sie unendlich viel Kraft gekostet. Nie zuvor hatte sie sich so schwach und hilflos gefühlt.
Sie konnte sich kaum noch gerade im Sattel halten. Viel weiter, so fürchtete sie, würde sie es nicht schaffen.
Alles, was sie noch wahrnahm, war das gleichmäßige Auf und Ab im Sattel und der Hufschlag des Pferdes. Der Kopf sackte ihr auf die Brust, ihr schwanden die Sinne. Langsam fiel sie mit dem Oberkörper nach vorn.
»Kenrick«, wisperte sie, denn der letzte klare Gedanke, den sie fassen konnte, galt dem Mann, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte. »Gott, schütz ihn!«
Dann glitt sie langsam in eine Welt aus Schatten, spürte, wie sie fiel …
Der Regen trommelte auf das Dach des Gotteshauses, als Randwulf of Greycliff seinem Pferd die Sporen gab und die Kapelle von Glastonbury Tor hinter sich ließ. Ein Sturm zog auf, doch Rand sprengte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Er hatte seinen Entschluss gefasst.
Und auch Kenrick hatte eine Entscheidung getroffen.
Sein Pferd schnaubte, und in der nebeligen Frühlingsluft umfing der Atem des Tiers die Nüstern wie eine weiße Wolke, als Kenrick in entgegengesetzter Richtung davonritt. Sein Blick haftete auf den frischen Spuren im weichen Gras an der anderen Seite des Hügels.
Haven war fort. Auf einem der Pferde war sie über diesen steilen Pfad geflohen. Sie wollte ihn verlassen, und der Gedanke, sie zu verlieren, traf ihn härter als jeder Schlag eines Gegners.
Kenrick hatte gewusst, was er tun musste, noch ehe ihn Rand zu einer Entscheidung gedrängt hatte. Erst jetzt wurde es ihm wirklich klar, er empfand es tief in seinem Herzen – und stärker als alles, was er je in seinem Leben gefühlt hatte.
Er liebte sie.
Er liebte Haven mehr als alles andere auf der Welt und musste ihr seine Liebe so schnell wie möglich gestehen.
Entschlossen versetzte er den Hengst mit hartem Schenkeldruck in gestreckten Galopp.
35,,
Sie schlug um sich, als sie zu sich kam.
Im selben Moment, da ihr Bewusstsein zurückkehrte, riss sie die Augen auf. Jede Sehne ihres Leibes spannte sich bei der Anstrengung an. In einem plötzlichen Anfall von Wut begehrten ihre Glieder unter der Zudecke auf, die ihrem Leib Wärme spendete. Sie warf sich von einer Seite auf die andere und stemmte sich mühsam von dem Kissen hoch, auf dem ihr Kopf geruht hatte.
»Ganz ruhig, Haven. Beruhig dich doch. Du bist in Sicherheit.«
Sie drehte den Kopf zur Seite und sah in die blauen Augen, die ihr ebenso vertraut waren wie ihr eigener Herzschlag.
»Kenrick.«
Mit einem leisen Seufzer formten ihre ausgetrockneten Lippen seinen Namen. Sie hätte nie geglaubt, dieses schöne Antlitz jemals wiederzusehen oder seine tiefe, beruhigende Stimme zu hören. Er war es wirklich: der Mann, den sie liebte und der nun voller Zuneigung auf sie hinabschaute.
»Ich habe dich vermisst, meine schöne Zauberin. Ganz Clairmont hat sich über deine Rückkehr
Weitere Kostenlose Bücher