Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Zuhause. Selbst wenn ich in mein altes Leben zurückkehren könnte, würde ich es nicht wollen. Ich möchte dich nicht verlassen. Nicht, wenn ich spüre, dass sich diesem Ort eine Bedrohung nähert.«
»Haven, das war keine Bitte … verflucht, du hast doch keine andere Wahl!«
Sie schien der Vernunft in diesem Augenblick keinen Raum zu gewähren. Trotz lag in ihrer Stimme, als sie das Kinn eigensinnig emporreckte. »Die anderen meines Clans nähern sich dieser heiligen Stätte. Ich fühle, dass sie kommen … «
»Dann werde ich sie gebührend empfangen. Dies ist mein Kampf, Haven. Überlass ihn also mir. Ich muss die Gewissheit haben, dass dir kein Leid widerfährt.«
Von der anderen Seite der Feuersbrunst waren schwere Schritte zu hören. Es war Rand, der in die Kapelle eilte, einen Fluch auf den Lippen. »Reiter nähern sich dem Tor, Heiliger. Ich zähle vier, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Nimm den verfluchten Kelch und komm zu den Pferden, damit wir noch rechtzeitig fliehen können!«
»Dafür ist es schon zu spät«, sagte Haven leise. »Sie wissen jetzt, dass wir hier sind. Wir können nicht davonlaufen, denn sie werden uns überall aufspüren.«
Kenrick missfiel, dass Haven die Worte auch auf sich bezog. »Es gibt kein Wir , Haven. Das darf nicht sein. Du bist gezeichnet – das hast du selbst gesagt. Du wirst sterben, wenn du hier in unserer Welt bleibst.«
Mit ihrer zierlichen Hand strich sie ihm sanft und besorgt über die Wange. »Und du und Rand, ihr werdet sterben, wenn ich euch verlasse.«
Er sah sie finster an und spürte den Zorn in sich hochsteigen, da sie sich ihm widersetzte, obwohl doch auch ihr bewusst sein musste, dass ihr Leben in großer Gefahr war. Aber sie erwiderte seinen Blick so ernst und kühn, dass er ihr nicht lange zürnen konnte.
»Der Drachenkelch ist wichtiger als jeder Einzelne von uns, Kenrick. Anavrin kann nur bestehen, wenn der Schatz in unser Reich zurückgeführt wird. Vielleicht hängt sogar die Zukunft deiner Welt – die Welt der Sterblichen – davon ab.«
Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß Kenrick einen Fluch aus. »Zu viele mussten für diesen verfluchten Kelch bereits ihr Leben lassen. Und keiner von uns weiß, ob wir diesen Hügel heute lebend verlassen werden.«
»Das ist wahr«, sagte sie, »wir wissen es nicht. Aber gemeinsam haben wir womöglich eine Chance.«
Für einen flüchtigen Moment überlegte Kenrick, wie es ihnen gelingen könnte, sich den vier Gestaltwandlern entgegenzustellen. Doch was ihm auch immer für Möglichkeiten durch den Kopf schossen, er verwarf sie alle sofort wieder. Die Hoffnung auf Flucht war trügerisch, und die Kelchsteine – und nicht zuletzt Haven – schwebten in großer Gefahr.
Er war sich nicht sicher, ob es diesmal ein Entkommen gäbe.
Plötzlich sah er, dass das gleißende Licht aus dem magischen Portal allmählich abnahm. Langsam schloss sich die Pforte, Haven indes blieb bei ihm. Entschlossenheit lag in ihrem Blick. Bald war das Licht ganz erloschen und der Zugang zu Havens Heimat versiegelt.
Im selben Moment wurden die Flammen hinter ihnen kleiner, als würden sie von einem unsichtbaren Zauber erstickt. Zurück blieben nur kleine Rauchschwaden und Ascheflocken auf dem Kachelboden.
»Versuchen wir es gemeinsam«, rief Haven entschlossen. »Vertrau mir. Es ist unsere einzige Chance.«
Ehe er darauf etwas erwidern konnte, stellte sich Haven auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er wollte sie schon an sich drücken, doch da unterbrach sie den flüchtigen Kuss wieder.
Rasch löste sie sich aus seinen Armen, wandte sich ab und schritt einer Kriegsgöttin gleich durch den Kapellenraum. Wortlos ging sie an Rand vorbei und strebte der Tür zu, bereit, sich den Mitgliedern ihres Clans entgegenzustellen.
Erst in diesem Augenblick fiel Kenrick mit Schrecken auf, dass Haven sein Schwert in beiden Händen hielt.
33
Ihrer inneren Eingebung folgend, richtete Haven all ihre übernatürlichen Sinne allein auf einen Gedanken. Doch bei den Gefühlswirren, die sie durchlebte, vermochte sie nicht abzuschätzen, ob ihrem Vorhaben Erfolg beschieden war. Ihr ganzes Wesen schwankte zwischen der Zauberkraft, die ihr von Geburt an gegeben war, und den Gefühlen, die sie einem Sterblichen entgegenbrachte und durch die sie sich verändert hatte.
Dennoch, sie klammerte sich an die Hoffnung.
Deutlich spürte sie die bösen Absichten der Reiter, die den Hügel hinaufritten. Ihr scharfes Gehör nahm den unverwechselbaren
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