Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
schnell zogen sie und ihr Gemahl sich unter einem Vorwand zurück, sodass Haven wohl oder übel allein mit ihrem wenig gastfreundlichen Gesprächspartner an der Tafel sitzen blieb.
Selbst die Bediensteten schienen Mitleid mit ihr zu haben, dass sie neben dem rätselhaften Herrn ausharren musste. Eilfertig kamen sie ihren Aufgaben bei Tisch nach und warfen verstohlene Blicke auf die Frau, die ohne eine Vergangenheit zu ihnen gekommen war – mit nicht mehr als ihrem Namen – und die in der Burg als Zeugin einer grässlichen Bluttat festgehalten wurde, an die sie sich nicht erinnern konnte – oder wollte.
Die neugierigen Blicke verrieten ihr, dass auch diese Leute sie eher als Gefangene denn als Gast betrachteten, obwohl niemand es wagen würde, sich auf ihre Seite zu stellen oder ihr gar zu helfen. Nicht, wenn ein solches Unterfangen bedeutete, den Zorn des Mannes heraufzubeschwören, den die einfachen Leute entweder für halb irrsinnig hielten oder in den Fängen der schwarzen Kunst wähnten.
Und nun war die Rede von diesem Märchen, in dem es um verzauberte Schätze und geheime Reiche ging, die von Magie durchdrungen waren.
»Wenn Ihr der Ansicht seid, dass an der Sage dieses Drachenkelchs nichts Wahres ist, was hat das Ganze dann mit dem Schicksal Eurer Freunde auf Greycliff Castle zu tun? Was verbindet Euch und Eure Schwester damit, und warum sagtet Ihr, das Wissen um den Kelch habe Ariana beinahe das Leben gekostet?«
»Einige Männer schrecken eben vor nichts zurück, auch wenn sie nur einem Traumgespinst hinterherjagen.«
»Demnach ist der Schatz also nichts weiter als ein Traum?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein Albtraum. Ein tödlicher Albtraum, den ich hoffentlich bald aus der Welt räumen kann.«
»Darum beschäftigt Ihr Euch also jede Stunde des Tages mit dieser Legende und haltet Eure Forschungen fest verschlossen hinter der Tür Eurer Kammer im obersten Stockwerk.«
Es hatte lediglich eine Feststellung sein sollen, eine Bemerkung zu seinen Angewohnheiten und den Dingen, die ihn antrieben. Doch der Blick, den Kenrick ihr nun zuwarf, wirkte bedrohlich. »Die Leute hier wissen, dass es einen Grund gibt, sich von meinen Gemächern fernzuhalten. Auch Ihr wäret gut beraten, Euch an diese Anweisung zu halten.«
»Droht Ihr mir jetzt, Mylord?«
»Nennt es, wie Ihr wollt. Ich meine es jedenfalls ernst, Haven. Kommt mir nicht in die Quere.«
»Oh, daran würde ich nicht einmal im Traum denken.« Sie stand abrupt auf und trat von ihrem Stuhl zurück. »Wenn Ihr mich entschuldigen würdet.«
Kenrick bedeutete einem Bediensteten, auf die Empore zu kommen. »Unser Gast hat gespeist und wünscht nun, sich zurückziehen zu dürfen. Bring die Dame zu ihrem Gemach.«
»Das wird nicht nötig sein«, entgegnete sie und richtete ihren zornigen Blick auf die kühle und unbewegte Miene des überheblichen Burgherrn. »Ich finde mich schon allein zurecht. Und Eure Bedenken sind unbegründet – ich werde den Bereich, den Ihr mir zugewiesen habt, nicht verlassen.«
11
»Seid Ihr nicht hungrig, Haven? Gestern habt Ihr nicht viel gegessen, und nun habt Ihr bei der Frühmahlzeit kaum etwas angerührt.«
Ohne großes Interesse beäugte Haven das Stück Käse und den halben Laib Brot auf dem Tischchen neben ihrem Bett.
»Ihr solltet wenigstens etwas davon essen«, beharrte Ariana. Besorgnis lag in ihrem Blick. »Ihr müsst wieder zu Kräften kommen.«
»Dann sagt mir, warum. Euer Bruder ließ mich wissen, dass er mich so lange hierzubehalten gedenkt, wie es ihm passt, ganz gleich, ob ich wieder bei Kräften bin oder nicht. Die Tür zu meiner Kammer mag nicht verriegelt sein, aber ich kann dennoch keinen Schritt tun, ohne das Gefühl zu haben, dass Lord Kenrick mich beobachtet oder in abschätziger Weise mustert.«
Ariana nahm auf der Bettkante Platz. »Was ist denn nur geschehen, Haven? Mir ist klar, dass es zwischen Euch und Kenrick gestern vor dem Mahl zu einem Wortwechsel gekommen sein muss. Um was ging es? Was ist vorgefallen?«
Zunächst gedachte Haven zu leugnen, dass sie wegen Kenricks Verhalten verstimmt war. Warum sollte sie sich eine solche Schwäche eingestehen? Warum sollte sie zugeben, dass er überhaupt eine Wirkung auf sie ausübte?
Aber sie war wegen des Zwistes in der Großen Halle immer noch verärgert. Zudem konnte sie nicht leugnen, dass ihr die beunruhigende Begegnung im Turm während der ganzen Abendmahlzeit nicht aus dem Kopf gegangen war. Der Burgherr hatte sie ganz
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