Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
sein werde.«
Ich kann es gar nicht abwarten, fügte sie im Stillen hinzu, und der Gedanke an die baldige Freiheit konnte kaum verlockender sein, zumal sie immer noch unter dem Eindruck der Begegnung mit Kenrick oben im Burgfried stand.
»Wie ich hörte, habt Ihr Euch heute Morgen unwohl gefühlt«, sagte sie aufrichtig besorgt zu Ariana. »Geht es Euch jetzt wieder besser?«
Braedon horchte auf. »Du hast mir gar nicht erzählt, dass es dir nicht gut geht, Liebste. Was fehlt dir?«
»Ach, nichts«, erwiderte die Dame mit einer leichten Handbewegung. »Ich habe Mary gesagt, sie solle nicht so viel Aufhebens davon machen. Ein wenig Bettruhe war alles, was ich brauchte. Es geht mir gut, wirklich.«
Der dunkelhaarige Ritter hob ihre Finger an seine Lippen und hauchte einen zarten Kuss auf ihre Hand. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Ja, mein Gemahl. Mir geht es gut, das schwöre ich. Es ging mir niemals besser.«
Haven sah die verliebten Blicke, die das Paar tauschte, und kam sich ein wenig fehl am Platze vor, zumal der mürrische Burgherr neben ihr stand. Sie wusste nicht, wie sie die ganze Mahlzeit hindurch neben ihm bei Tisch ausharren sollte, wenn schon jetzt eine innere Unruhe sie quälte.
»Noch zwei Gedecke«, trug Ariana einem Bediensteten auf, der soeben Wein an der Hochtafel nachschenkte. »Kommt, Haven. Setzt Euch doch neben mich.«
Haven lächelte und ließ sich von Ariana zu einem der beiden freien Plätze führen. Zu spät erkannte sie, dass Kenrick, dem nur noch ein Lehnstuhl zur Verfügung stand, sich nun über Havens Tranchierbrett beugen müsste, wenn er sich mit seiner Schwester oder seinem Schwager unterhalten wollte. Vielleicht, so wagte sie zu hoffen, bliebe er aber auch so schweigsam wie immer und sagte die ganze Zeit kein Wort.
Doch er war ihr viel zu nah. Sein großer, kraftvoller Leib nahm den gesamten Stuhl ein, sein muskulöser Arm ruhte neben ihr auf dem Tisch. Sein Oberschenkel war dem ihren so nah, dass sie meinte, die Hitze seines Körpers durch all die Schichten ihrer Kleidung hindurch zu spüren. Warum hatte sie sich seinem Wunsch nicht widersetzt, als Gast neben ihm an der Hochtafel Platz zu nehmen? Hätte sie nach dem unerquicklichen Zusammentreffen vor der verschlossenen Tür nicht verärgert ablehnen können?
Er gab vor, in ihr einen Gast zu sehen.
Ganz gleich, wie er es auszudrücken versuchte, er würde sie so lange hierbehalten, wie er es für richtig befand. Die ganze Zeit würde er sie im Auge haben, bis er für sich entschieden hätte, ob sie ihm noch von Nutzen wäre oder nicht.
Haven hing diesen Gedanken nach, während Kenrick und Arianas Gemahl über einen Übungskampf am Vormittag sprachen. Plötzlich schweifte sie in ihrer Erinnerung zu jener Nacht des Überfalls zurück. Sie ließ es nicht zu, sich zu weit in die düsteren Vorgänge zurückzuwagen, spürte sie doch, dass ein Gefüge aus Schmerz und Schrecken ihren gesunden Geist daran hinderte, zu den Erinnerungen vorzudringen, die durch die entsetzlichen Erlebnisse verdeckt noch irgendwo in ihr schlummerten.
Doch seitdem sie aus ihrem von Fieber beherrschten Dämmerzustand erwacht war, zeigte die Wand, hinter der sich die Bilder jener Nacht verbargen, von Stunde zu Stunde mehr Risse. Dabei wollte sie gar nicht erfahren, was dahinter zum Vorschein käme, denn sie war sich keineswegs sicher, ob sie die schreckliche Wahrheit überhaupt ertragen könnte.
»Haven … ?«
Es war Arianas Stimme, die sie aus den dunklen Nebeln zurück in die Gegenwart riss. »Entschuldigt, habt Ihr mit mir gesprochen?«
»Ja«, meinte die blonde Frau mit einem Lächeln, doch Besorgnis lag in ihren blauen Augen. »Ich fragte Euch gerade, ob Ihr von der Fischsuppe kosten möchtet. Ein Gericht, auf das der Küchenmeister sich besonders gut versteht.«
Haven nickte und nahm die Schale mit Suppe vorsichtig entgegen. »Habt Dank, ich war … gerade in Gedanken.«
»Etwas bereitet Euch doch Sorgen«, stellte Ariana fest, sah Haven freundlich an und senkte die Stimme. »Ihr wart in Gedanken bei dem Überfall, nicht wahr?«
»Ja.«
»Könnt Ihr Euch inzwischen an weitere Einzelheiten erinnern?«
»Nein. Ich habe Euch schon alles erzählt.« Sie stieß einen leisen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass ich mich im Grunde gegen die Erinnerungen sperre. Vermutlich werde ich die Bilder nicht wieder aus dem Kopf bekommen, sobald die Erinnerung zurückkehrt.«
Ariana presste die Lippen zusammen und
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