Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
verlangte.
Eine ganze Mahlzeit lang neben dieser verlockenden Schönheit sitzen zu müssen, würde seine Selbstbeherrschung einer harten Probe unterziehen. Nun aber war es zu spät, das Angebot rückgängig zu machen, denn Haven stieg bereits in königlicher Haltung vor ihm die Stufen hinunter.
Kenrick folgte ihr mit zögernden Schritten und dachte erneut darüber nach, was die junge Frau in dem obersten Stockwerk gesucht haben mochte. Denn er bezweifelte, dass sie – wie sie behauptete – nur rein zufällig vor seiner Tür gestanden hatte. Genau hinter dieser Tür, vor neugierigen Blicken und Diebeshänden geschützt, verwahrte er den einzigartigen Beweis für die Existenz des Drachenkelchs.
Ahnte sie etwa, was er in seinem Gemach verbarg?
Unmöglich, dachte er und zog die Stirn kraus, als er sich fragte, welche Folgen ein solches Wissen haben könnte. Abgesehen von ihm kannten nur Ariana und Braedon die Wahrheit. Und so musste es auch bleiben, zum Wohle aller.
Doch es fiel ihm schwer, Havens furchtsamen Gesichtsausdruck zu vergessen, als er sie vor der Tür ertappt hatte. Für einen Augenblick hatte es so ausgesehen, als habe sie die übernatürliche Kraft gespürt, der sie so gefährlich nah gekommen war.
Abermals flammte der alte Argwohn auf, als Kenrick die Schöne mit dem feurigen Haar beobachtete, die auf so unerwartete Weise in seine Obhut geraten war. Er redete sich ein, es liege nur an seinem Misstrauen, dass er diese Frau mit so großem Interesse betrachtete, als er ihr auf der gewundenen Treppe in die voll besetzte Halle hinunter folgte.
10
Obwohl ihre Vergangenheit nur einen ganz unzureichenden Raum in ihrer Erinnerung einnahm, war sich Haven sicher, nie zuvor einen solch bemerkenswerten Augenblick erlebt zu haben wie diesen jetzt, in dem sie an der Seite des rätselhaften Burgherrn die Große Halle betrat. Der lange Saal war für die Mittagsmahlzeit hergerichtet worden, mit auf Böcken ruhenden Tischen und Sitzbänken, die man in Reihen aufgestellt hatte.
Viele der Burgbewohner – Bedienstete, Ritter und gemeines Volk – hatten sich schon Sitzplätze gesucht. Und fast alle schauten verblüfft und wie gebannt zur Tür hinüber, als das ungleiche Paar die Halle ein wenig gedankenverloren betrat.
Nicht wenige tuschelten hinter vorgehaltener Hand, und ein Raunen beherrschte den Saal. Haven glaubte, die Fragen aufzuschnappen, die die Burgbewohner beschäftigten: Woher mag sie kommen? Wer ist sie? Was hat der Burgherr mit ihr vor?
Und all diese Fragen beschäftigten Haven selbst, während Kenrick sie mit gewohnt grüblerischer Miene durch den Mittelgang geleitete, vorbei an den langen Tischreihen. Am anderen Ende der Halle befand sich die Empore mit der herrschaftlichen Hochtafel.
Ariana hatte bereits auf einem der vier hohen Lehnstühle Platz genommen. Zu ihrer Linken saß ihr Gemahl. Der große Krieger hatte seinen Schwager und dessen Gast gleich an der Tür erspäht, und fortan hafteten seine grauen Augen auf Haven. Er maß sie mit einem prüfenden Blick, wie es sonst nur Kenrick zu tun pflegte.
Havens Schritte wirkten ein wenig unsicher, denn dieselbe Unruhe hatte sie erfasst, die sie bereits empfunden hatte, als sie Braedon le Chasseur zum ersten Mal unten im Burghof begegnet war. Je näher sie nun der Empore kam, desto deutlicher spürte Haven, dass etwas in Braedons Blick – in seiner ganzen Gegenwart – lag, das sie wachsam werden ließ. Es war ein unbestimmtes Gefühl – wie eine blasse Erinnerung. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr Braedon bekannt vorkam.
Ariana schien sich von der Unpässlichkeit, wegen der sie länger im Bett geblieben war, inzwischen erholt zu haben. Lächelnd hielt sie die Hand des dunkelhaarigen Kriegers; anmutig und liebevoll waren ihre schlanken weißen Finger mit seinen großen gebräunten Fingern verschränkt. Das Paar erhob sich höflich, als Kenrick und Haven die Hochtafel erreichten.
Ariana begrüßte ihren Bruder mit einem zärtlichen Kuss auf die Wange. »Was für eine angenehme Überraschung. Ich kann mich nicht erinnern, wann du das letzte Mal gemeinsam mit uns gespeist hast, Bruder.«
Als der schweigsame Burgherr darauf nur etwas Unverständliches vor sich hin murmelte, wandte sich Ariana Haven zu und umschloss freundschaftlich ihre Hand. »Ihr seht jeden Tag besser aus, Haven. Es freut mich, dass Ihr Euch so rasch von der Verletzung erholt.«
»Habt Dank«, murmelte Haven. »Ich hoffe, dass ich bald wieder ganz gesund
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