Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
durcheinandergebracht, und das trug jetzt zu ihrem Unmut bei.
Beharrlich versuchte sie, nicht daran zu denken, was sonst noch zwischen ihnen vorgefallen war, ganz zu schweigen von den unwillkommenen Empfindungen, die seine Berührung in ihr hervorrief … Zu ihrem Leidwesen schien ihr Körper so stark auf seine Gegenwart anzusprechen.
Es käme einer Demütigung gleich, wenn sie Ariana gegenüber zugeben müsste, dass Kenrick eine anziehende Wirkung auf sie ausübte. Schlimmer wäre es allerdings noch, wenn Kenrick auf irgendeine Weise von ihrem Bekenntnis erführe und Haven deswegen verspotten würde.
»Da war nichts«, log sie schließlich, in der Hoffnung, das Thema beenden zu können. »Ich bin lediglich durch die Gänge des Turms gegangen, um mir die Beine zu vertreten. Ich hatte kein bestimmtes Ziel, und als ich schließlich in mein Gemach zurückkehren wollte, habe ich entdeckt, dass ich inzwischen im obersten Stockwerk angekommen war.«
Lady Ariana stieß einen leisen Seufzer aus. »Kenrick lässt außer Braedon und mir niemanden dort oben hin. Das Turmgemach gehört ihm allein.«
»Genau das ließ er mich wissen. Er machte mir unmissverständlich deutlich, dass ich im Begriff sei, mir unrechtmäßig Zutritt zu seinen Räumen zu verschaffen, und riet mir dringend, den Turm sofort zu verlassen.«
»Ah, ich verstehe. Das tut mir leid, Haven. Ich fürchte, Kenrick ist manchmal ein wenig … «
»Grob?«, bot sie an. »Verdrießlich? Herrisch?«
»Angespannt«, sagte Ariana schließlich mit einem mitfühlenden Lächeln. »Ihr müsst das verstehen. Er lebt sehr zurückgezogen und ist ganz in seine Forschungen vertieft. Ich fürchte, er ist nicht sonderlich taktvoll, wenn er mit anderen Leuten zusammen ist – das fällt mir seit kurzer Zeit mehr und mehr auf. Wenn er etwas gesagt oder getan hat, das Euch Verdruss bereitet, so bin ich mir sicher, dass er es nicht so gemeint hat.«
Haven wollte schon fast ihrer Empörung Luft machen, doch war es ja nicht ihre Absicht, ihren Unmut an Ariana auszulassen. Stattdessen zuckte sie gleichgültig die Schultern und nahm die Entschuldigung eher widerwillig an. »Bitte seht mir meine Offenheit nach, Mylady, aber Euer Bruder ist ein ungehobelter und, leider Gottes, auch ein eigenbrötlerischer Mann.«
»Manchmal, ja.« Ein Lächeln umspielte Lady Arianas Mundwinkel. »Ich denke, dass sich von Zeit zu Zeit alle Männer so benehmen, nicht wahr?«
»Mag sein«, räumte Haven ein und ließ sich auf den kleinen Scherz ein.
»Kenrick war nicht immer so – so, wie er sich jetzt gibt, meine ich. Vor Jahren, als wir zusammen aufwuchsen, ist er noch sehr zuvorkommend und freundlich gewesen. Er besaß viel Feingefühl und Einfühlungsvermögen, was durch sein Streben nach Wissen noch verstärkt wurde. Als meine Mutter kränkelte und schließlich im Sterben lag, drängte sie meinen Vater zu dem Versprechen, Kenrick auch weiterhin nicht in seinen Studien zu behindern.«
»Demnach war es nicht der Wunsch Eures Vaters, dass Kenrick ein Gelehrter wurde?«
Ariana schüttelte den Kopf. »Kenrick war der Erbe von Clairmont, müsst Ihr wissen, und den Verpflichtungen gegenüber dem Besitz durfte er sich nicht entziehen. Mein Vater berücksichtigte zwar den Wunsch meiner Mutter, sowie sie verschieden war, traf aber auch eine weitere Vereinbarung mit Kenrick. Mein Bruder durfte unter kirchlicher Obhut lernen, musste allerdings versprechen, nach Clairmont Castle zurückzukehren, wenn die Burg einen neuen Herrn brauchte. Kenrick hatte sich früher einmal Hoffnungen gemacht, Geistlicher zu werden.«
»Geistlicher?«, wiederholte Haven erstaunt. »Eine solche Berufung erfordert aber Demut, nicht wahr? Und eine freundliche Veranlagung. Soweit ich das beurteilen kann, besitzt Euer Bruder weder die eine noch die andere Eigenschaft.«
»Doch, einst erfüllte er all diese Voraussetzungen. Es dürfte Euch überraschen zu hören, dass diejenigen, die ihn näher kannten, ihn oftmals Heiliger nannten. Randwulf of Greycliff dachte sich diesen Namen bereits aus, als die beiden noch Jungen waren. Rand wuchs hier auf Clairmont Castle auf. Er ist – war – Kenricks bester Freund.«
Bei der Erwähnung der Burg Greycliff wurde Haven still. Sie konnte nicht an diesen Ort oder die Bewohner dort denken, ohne im Geist zu dem Blutbad zurückzukehren, das die nächtlichen Angreifer in der Burg angerichtet hatten. Erinnerungsfetzen und Bilder des Grauens, die sie sonst nur in der Nacht verfolgten,
Weitere Kostenlose Bücher