Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
bemächtigten sich ihrer nunmehr auch während des Tages. Die Bilder kamen unangekündigt und mit unvermuteter Klarheit, auch wenn diese Erinnerungen nur Augenblicke währten und ebenso rasch wieder erloschen, wie sie aufgeflammt waren.
Diesmal spürte sie die sengende Hitze des Feuers unmittelbar auf ihrer Haut. Sie glaubte, ersticken zu müssen, rang verzweifelt nach Atem, verspürte Schmerzen am ganzen Leib … suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. Sie rannte nun davon, wie ihr bewusst wurde, sah sie doch das Inferno hinter sich. Vor dem pechschwarzen Nachthimmel leckten die grellen Flammen bis zum First der Gebäude und schlugen aus dem Turm.
Sie stolperte, benommen von Qualm und Rauch, und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Keuchend warf sie einen flüchtigen Blick über die Schulter, doch ihre Sicht blieb verschwommen. Plötzlich waren ihr drei schemenhafte Gestalten auf den Fersen. Einer der Verfolger ging mit einem Schmerzensschrei zu Boden, niedergestreckt durch eine Schwertklinge, die ihn von hinten durchbohrte. Ein unheilvolles Aufbrüllen gellte durch die Nacht – wie von einem wilden Tier. Jeden Augenblick würde sie zu Boden stürzen. Dessen war sie sich sicher.
Bei allen Heiligen, sie wollte doch noch nicht sterben!
»Haven?«
Die weiche Stimme schlich sich in die schrecklichen Erinnerungen, die Haven unbarmherzig bestürmten, und holte sie rasch in die Gegenwart zurück. Als sie verwirrt aufschaute, sah sie in Arianas besorgte Miene.
»Wie ist Euch, Haven? Ihr seid mit einem Mal so blass geworden.«
»Es ist nichts. Mir … es geht mir gut.«
Ariana ergriff Havens Hand und drückte sie. Zwar sollte es eine Geste des Mitgefühls sein, aber Haven war an derartige Bekundungen nicht gewöhnt.
Es beunruhigte sie, Arianas Hand zu spüren, daher zog sie ihre eigene Hand rasch zurück. »Es geht mir gut.«
»Nein, etwas belastet Euch, Haven. Was ist Euch auf Greycliff Castle widerfahren? Ich weiß, dass Eure Erinnerung allmählich zurückkehrt. Deutlich sehe ich das Entsetzen in Euren Augen.«
Konnte das wahr sein? Konnte man ihr den Gemütszustand so leicht vom Gesicht ablesen? Haven erhob sich und trat an das Fenster. »Ich kann mich nicht an alles erinnern. Und das, was mir wieder vor Augen steht, ergibt wenig Sinn.«
»Aber die Erinnerung kehrt zurück, wenn auch bruchstückhaft?«, fragte Ariana.
Die scharfe Beobachtungsgabe der blonden Frau ließ Haven innehalten. Obgleich ihr Erinnerungsvermögen noch trügerisch war und lediglich verwirrende Ausschnitte des wahren Geschehens preisgab, wusste Haven jetzt, dass sich die Einzelheiten jener grauenvollen Nacht wieder zu einem Gesamtbild zusammenfügen würden.
Ein Teil von ihr sehnte sich danach, die Erinnerungen in die dunklen Winkel ihres Gedächtnisses zurückzudrängen, denn die Dinge, die sie sah, waren beunruhigend und grausam. Doch ein anderer Teil ihres Bewusstseins – jener Teil, der einen starken Selbsterhaltungstrieb besaß – drängte sie dazu, sich dem ganzen Ausmaß der Wahrheit zu stellen. Je eher sie die Erinnerungen zuließ, desto schneller würde sie begreifen, was wirklich geschah.
Und Zugang zu einer geheimen Kraft erlangen, die sich ihr im Augenblick noch entzog.
»Ich sehe, dass mein Bruder seit Eurer Ankunft wenig unternommen hat, um Eure Wertschätzung zu erlangen. Aber Ihr solltet dennoch wissen, dass er der Einzige ist, der nachvollziehen kann, was Ihr durchmachen musstet und womöglich während des Überfalls auf Greycliff Castle habt mit ansehen müssen. Kenrick wird Euch beschützen, wenn Ihr das zulasst, Haven.«
»Ich brauche keinen Schutz.«
»Wirklich nicht? Was macht Euch so sicher, dass diejenigen, die Euch nach dem Leben trachteten, nicht erneut nach einer Gelegenheit suchen, Eurem Leben ein Ende zu bereiten? Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung davon, zu was diese Leute fähig sind?« Als Haven schwieg, gab Ariana einen kleinen Seufzer von sich. »Nun, Kenrick weiß all dies aus erster Hand. Und ich ebenfalls. Übrigens auch Braedon, mein Gemahl. Wir drei sind noch einmal mit dem Leben davongekommen.«
»Was ist Euch widerfahren?«
»Wir haben überlebt. Das ist mehr, als man sich erhoffen darf, wenn es um den Schurken geht, von dem ich spreche. Seine bösen Absichten kennen keine Grenzen.«
»Und jetzt glaubt Ihr, dass ich in derselben Gefahr schwebe?«
»Ich fürchte, ja.« Lady Ariana strich sich mit der flachen Hand über ihren straffen Bauch, und ein Schatten huschte über ihr sonst
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