Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
legte ihre Hand auf die Havens. Als sie zu sprechen anhob, lag keine Spur von Überraschung in ihrer Stimme, nur Verständnis. »Hier sind dunkle Kräfte am Werk, Haven. Ihr glaubt gar nicht, wie glücklich Ihr Euch schätzen dürft, dass Ihr überlebt habt und jetzt hier sitzt.«
»Warum sollte jemand Greycliff Castle angreifen? Was wollten diese Räuber denn nur?«
»Die Antworten auf genau diese Fragen habe ich mir von Euch erhofft«, warf Kenrick ein. »Die Männer suchten etwas, das sich in Rands Besitz befand. Ich muss wissen, ob sie es gefunden haben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann aber nicht sagen, was die Angreifer wollten. Warum ist Euch das so wichtig?«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ein abweisender Zug lag um seinen Mund. Sein beharrliches Schweigen schürte Havens Ungeduld.
»Ihr selbst wollt mir nichts erzählen, erwartet aber von mir, verlangt es geradezu, dass ich mich Euch öffne.«
Drückendes Schweigen senkte sich auf die Hochtafel, eine Stille, die Havens Zorn nur umso stärker anfachte. Sie schaute von Kenricks unbewegter Miene zu Braedons düsterem Profil am anderen Ende der Tafel, ehe sie Arianas freundlichen Blick einfing, aber selbst die Schwester des Burgherrn schien etwas zu verbergen. Nun sagte selbst sie, Havens einzige Vertraute in dieser fremden Umgebung, kein Wort mehr.
»Ihr bittet mich, Euch zu vertrauen, aber keiner hier zieht mich ins Vertrauen.«
Ariana war die Erste, die angesichts dieses Vorwurfs schuldbewusst den Kopf senkte.
»Kenrick«, sagte sie leise, »Haven hat recht. Sie hat es durchlebt, wie wir auch. Sie ist längst in die dunklen Vorgänge verwickelt, ob dir das nun gefällt oder nicht, Bruder. Und wenn du es ihr nicht sagst, dann tue ich es. Vor gar nicht langer Zeit war ich diejenige, die nichts von deiner Suche erfahren durfte.«
»Und beinahe hättest du für dieses Wissen mit dem Leben bezahlt«, entgegnete er. Doch in seinem Tonfall lag kein Vorwurf, sondern beinahe so etwas wie Verehrung – seiner einzigen Schwester gegenüber.
»Es war nicht das Wissen um den Drachenkelch, was mein Leben bedrohte. Es waren diejenigen, die danach suchen – und das sind die gleichen gefährlichen Männer, die deine Freunde erschlagen haben und auch Haven ermordet hätten, wenn du sie nicht gefunden hättest. Sie hat ein Recht, alles zu erfahren.«
Ein Wort aus Arianas Mund brannte sich in Havens Gedächtnis. »Drachenkelch?«, hauchte sie.
»Ein Mythos«, sagte Kenrick knapp und warf seiner Schwester einen scharfen Blick zu.
»Was hat es damit auf sich?«, fragte Haven.
Einen Moment lang sagte niemand ein Wort. Schließlich wandte Kenrick den Blick von Ariana und ihrem düster dreinschauenden Gemahl und sah Haven an. »Einer alten Legende zufolge gibt es ein verzaubertes Land mit großen magischen Kräften. Dieses mystische Reich heißt Anavrin und verdankt seine Existenz einem besonderen Gefäß, das als Drachenkelch bekannt ist. Es heißt, demjenigen, der im Besitz dieses Kelchs ist, sei eine ungeahnte Machtfülle vergönnt: grenzenloser Reichtum, vollkommenes Glück und Unsterblichkeit. Diese Gaben und vieles mehr gehörten einst Anavrin und seinen Bewohnern. Bis ihnen ein Sterblicher den Kelch stahl.«
Wie gebannt lauschte Haven seinen Worten und spürte, dass sich die verschlossenen Pforten ihres Erinnerungsvermögens einen Spaltbreit öffneten. »Ich glaube, ich habe schon von diesem Schatz gehört. Das alles kommt mir irgendwie … bekannt vor.«
»Vielleicht hat Rand einmal in Eurer Gegenwart davon gesprochen«, schlug Ariana vor und blickte fragend von Haven zu Kenrick.
»Vielleicht«, sagte er, doch seinem Unterton war zu entnehmen, dass er anderer Auffassung war. »Das kann uns nur Haven beantworten.«
»Aber ich weiß es nicht«, sagte sie, und dies war die Wahrheit. »Ich habe keinen Grund, Euch Dinge vorzuenthalten.«
Kenrick gab einen unwirschen Laut von sich, als er damit anfing, die Suppe zu essen.
»Wie kommt es, dass Ihr so viel über diese Legende wisst?«, fragte Haven.
»Ich beschäftige mich seit über zehn Jahren damit.«
»Zu welchem Zweck?«
»Um herauszufinden, ob an der Sage ein Fünkchen Wahrheit ist.«
»Und, ist etwas Wahres daran?«
Er starrte sie eine ganze Weile an, doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein. All diese Geschichten sind erfunden. Den Drachenkelch gibt es nicht.«
Ariana war auffallend still geworden. Sie widmete sich nun ausschließlich ihrer Mahlzeit, die sie rasch beendete. Allzu
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