Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Augenblick hatte er sein Schwert gezogen und zu einem tödlichen Streich ausgeholt.
Alles war so schnell gegangen.
Haven schaute zu Kenrick hinüber und atmete erleichtert aus, als sie sah, dass er lebte. Er stand nun vor ihr, Kettenhemd und Wams waren von dem Kampf zerrissen. Seine Miene wirkte ebenso hart und unerbittlich wie sein Schwert, das er in der Rechten hielt und von dessen Klinge das Blut des Geschöpfs tropfte. Um ein Haar hätte es ihn getötet, doch nun lag es zu seinen Füßen.
Allerdings war es jetzt nicht mehr das schwarze Tier, sondern eine menschliche Gestalt.
Dunkle Augen, in denen das Leben allmählich erlosch, starrten Haven aus einem Gesicht an, dessen Züge vor dem nahenden Ende erschlafft waren. Eine große Hand lag ausgestreckt auf dem Boden, Haven zugewandt, und nun bewegten sich die Finger, als wolle der Unhold sie heranwinken, während in seinen glasigen Augen eine unaussprechliche Verachtung lag.
Für einen Augenblick – gebannt durch den schrecklichen Vorfall und durch das, was nun wie eine Woge in ihr Gedächtnis zurückflutete – war Haven nicht imstande, sich zu rühren.
Sie kannte diesen Mann.
Bei Gott … sie hatte ihn schon einmal gesehen.
Sein Atem kam rasselnd und langsam und ging in ein Röcheln über. Und in dem Moment, als das Leben aus seinen Augen wich, verzog der Unhold die wulstigen Lippen zu einem anzüglichen Grinsen.
Dieser Mann, dieses abgrundtief böse Geschöpf, hatte sie ebenfalls erkannt.
Er war in jener Nacht auf Greycliff Castle gewesen, dessen war sie sich sicher.
In der von Rauchschwaden durchzogenen Dunkelheit des Burgfrieds, der den züngelnden Flammen zum Opfer fiel, hatte er in ihrer Nähe gestanden. Bei allen Heiligen, sie konnte den hässlichen Klang seiner grollenden Stimme in ihren Ohren nachhallen hören – er hatte gerufen, niemanden zu schonen, nicht einmal die kleinen Kinder.
Grauenhafte Worte.
Ein höllischer Befehl.
»Haven.« Es war Kenricks Stimme, die Haven durch die düsteren Erinnerungen hindurch erreichte. Mit einem Schritt war er bei ihr. »Haven, alles ist gut.«
Sie schüttelte den Kopf, eine unwillkürliche Reaktion, denn eine kalte Angst war ihr in die Glieder gefahren.
»Nein«, entfuhr es ihr im Flüsterton. Sie wusste, dass das, was sich da vor ihren Augen ereignet hatte, keineswegs vorüber war.
Die Bedrohung, die sie in der Nacht zuvor verspürt hatte, verstärkte sich noch. Furcht kroch in ihr empor, wie ein bösartiges Tier. Sie sah die Gefahr in den blicklosen Augen des Mannes, und das starre, aber boshafte Grinsen ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
»Ich muss hier raus«, keuchte sie.
»Haven.«
»Nein.« Kenrick streckte die Hand nach ihr aus, doch Haven wich vor ihm zurück und strebte mit unsicheren Schritten dem Tor zu. »Ich muss … fort von hier. Ich kann nicht … Gott, ich kann kaum noch atmen.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stolperte in Richtung Ausgang. Den Ritter zur Seite stoßend, der sie auf Geheiß seines Herrn festhalten sollte, stürmte sie ins Freie. Mit einem Aufschrei lief sie los, ohne bei dem grellen Sonnenlicht etwas zu erkennen.
Kenrick rief hinter ihr her, aber Haven konnte nicht mehr stehen bleiben oder gar zur Scheune zurücklaufen. Sowie ihre Augen sich an das Tageslicht gewöhnt hatten, rannte sie los.
Sie floh vor der verwirrenden Wahrheit, die sich ihr in der Scheune offenbart hatte – und vor der plötzlichen Flut von Erinnerungen, die ihr den Atem einschnürten. Erinnerungen, die den ganzen Schrecken jener Nacht auf Greycliff Castle zurückbrachten.
Kenrick sah die Furcht in ihren Augen, als Haven aus der Scheune floh. Nur wenige Menschen hätten erfasst, was sich soeben in der Scheune ereignet hatte – die unglaubliche Verwandlung des verletzten Mannes, der noch während des Sprungs zu einer reißenden Bestie geworden war. Aber Kenrick war sich sicher, dass Haven den Vorgang verstanden hatte. Neben dem Erstaunen hatte Kenrick nämlich noch etwas anderes in Havens Augen aufflackern sehen, ein Anzeichen des Wiedererkennens, als habe sie nicht zum ersten Mal erlebt, zu was Silas de Mortaines Helfershelfer fähig waren.
Mochte Haven das Böse, das hier am Werk war, auch wiedererkannt haben, man durfte nicht erwarten, dass sie mit den schrecklichen Bildern zurechtkam, schon gar nicht allein.
Und da de Mortaines Spürhunde bereits im Umkreis von Clairmont Castle herumschlichen, fürchtete Kenrick, Haven könne in ihrem augenblicklichen
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