Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
gesehen, nicht wahr?«
»Ja«, hauchte sie, und ihr Atem streifte seinen Hals.
»Du brauchst dich vor deinen Erinnerungen nicht zu fürchten, Haven. Sie können dir kein Leid antun.«
Sie wandte das Gesicht von ihm ab und kniff die Augen zusammen, als verbrenne sie die Erinnerung an jene Schreckensnacht von innen, sobald sie nur daran dachte. »Du ahnst ja nicht … kannst nicht wissen … «
»Erzähl es mir, Haven. Du musst mir sagen, an was du dich erinnerst.«
Als sie die Sprache schließlich wiedergefunden hatte, war ihre Stimme leise, aber fester als zuvor. »Er war dort, Kenrick. Dieser Mann. Er gehörte zu den Fremden, die Greycliff Castle überfallen haben.«
»War er derjenige, der dich angriff?«
Sie schüttelte langsam den Kopf und zuckte dann unsicher die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht … aber dieses Gesicht – ich habe ihn schon einmal gesehen. Vorhin in der Scheune hat er mich so seltsam angeblickt, ehe er starb, als habe er auch mich wiedererkannt. Er schien die Hand nach mir auszustrecken. Gott, ich könnte schwören, dass er durch mich hindurchgesehen hat.«
Kenrick zog sie enger an sich und schmiegte seine Wange an ihr Ohr. »Denk nicht mehr an ihn. Er kann dir nichts mehr tun.«
»Er war auf Greycliff Castle, dessen bin ich mir sicher. Er war einer der Schurken, die deine Freunde auf dem Gewissen haben.«
Zorn und Wut regten sich aufs Neue in Kenrick, als er sich ausmalte, dass Rand und dessen Familie hingeschlachtet worden waren – von diesen Geschöpfen der Hölle. »Jeder Einzelne seines Schlages wird meine Klinge zu spüren bekommen«, schwor er voller Ingrimm.
»Seines Schlages«, wiederholte Haven murmelnd, und ein schmerzvoller Unterton lag in ihrer Stimme. »Kenrick, es gibt eine Bezeichnung für diese Geschöpfe.«
»Gestaltwandler«, sagte er beinahe tonlos. »Ich weiß, mit was für Wesen wir es zu tun haben. Dieser elende Schurke im Dorf ist einer der Männer, die unter Silas de Mortaines Befehl stehen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie sich von einem Menschen in ein wildes Tier verwandeln, wie sie sogar die Gestalt eines anderen Menschen annehmen können.«
Haven löste sich nun ein wenig von ihm und trat schließlich einige Schritte zurück. Dann schlang sie die Arme um den Leib, als verspüre sie eine beißende Kälte. »Gott, Kenrick, wie kannst du so ruhig und abgeklärt von diesen Wesen sprechen. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, über wie viel Macht de Mortaine verfügt, wenn er sich schwarzer Magie bedient? Wie willst du gegen solche Feinde vorgehen?«
»Mit eisernem Willen. Und der Entschlossenheit, die einen Krieger vor einer Schlacht auszeichnet.«
»Aber dies ist kein einfacher Kampf. Und das weißt du.« Sie sah zu ihm auf; ihr hübsches Gesicht war hier und da von der Flucht durch das Gestrüpp zerkratzt, ihr sinnlicher Mund ein dünner Strich. »Kenrick, ich glaube nicht, dass du diesen Kampf gewinnen kannst.«
Ihre Zweifel machten ihn wütend. »Ich werde den Sieg davontragen, und wenn ich dafür mein Leben lassen muss.«
Ein trauriger Ausdruck huschte über ihr Antlitz. »Aber verstehst du denn nicht?« Sie nagte an der Unterlippe und konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Genau das fürchte ich am meisten.«
In der Stille des schattigen Waldes fing Kenrick ihren unruhigen Blick ein. Noch nie hatte er Haven verletzlicher erlebt, niemals hatte sie ihm aufrichtiger ihre Sorge um ihn gezeigt. Sie bebte am ganzen Leib, doch trotz der inneren Unruhe stand sie wie die Herrin des Waldes vor ihm.
Er hatte sich selbst geschworen, dass er sie nicht mehr berühren werde, hatte es Haven sogar gesagt, aber dieser Vorsatz stürzte nun wie ein Bauwerk, das auf Sand errichtet wurde, in sich zusammen.
Drei Schritte nur, und er war bei ihr.
Mit zwei Fingern hob er ihr Kinn an und sah ihr in die Augen. Es bedurfte keiner weiteren Worte. Kenrick beugte sich zu ihr hinab, streifte ihre Lippen mit den seinen und küsste sie mit einer Zärtlichkeit und Bewunderung, die tiefer ging, als er es für möglich gehalten hatte. Bald unterbrachen sie den Kuss, doch nur, um schon im nächsten Moment wieder zueinanderzufinden; innig verschmolzen die Münder mit ehrlichem Sehnen, das keiner von beiden länger zu leugnen gedachte.
»Ich kann dich nicht gehen lassen«, wisperte Haven an seinen Lippen.
»Ich dich auch nicht«, gestand er ihr mit belegter Stimme. »Aber hier können wir nicht bleiben. Du bist hinter den
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