Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
muss doch … Hunderte von Jahren her sein.«
»Ja.«
Allmählich begann er, klarer zu sehen. »Sie hatten Kinder, der Ritter aus dieser Welt und die Prinzessin«, sinnierte er.
»Ja.« Serena nickte, und ihre inneren Qualen spiegelten sich in ihrem traurigen Blick. »Ich bin die Tochter ihrer Kindeskinder, Rand. Ich gehöre zu diesem Stammbaum. In meinen Adern fließt das Blut von Calandra aus Anavrin … und auch das von Silas de Mortaine.«
Er wich zurück, wie vom Schlag gerührt. Er konnte nichts dagegen tun. Seine Reaktion war der Versuch zu leugnen, was er eben gehört hatte. Aber da in Serenas Blick so viel Verzweiflung und Scham lagen, erkannte Rand, dass ihre Worte nichts anderes als die schonungslose und unwiderlegbare Wahrheit sprachen.
Die liebliche Serena, die Frau, die sein Herz erobert hatte, sie war die Blutsverwandte seines Erzfeinds, den Rand bei der erstbesten Gelegenheit in die Tiefen der Hölle zu schicken gedachte.
»Es tut mir leid, Rand«, sagte sie leise, als der Kutscher die Pferde wieder mit einem lauten Peitschenknall antrieb.
Rands Herz hämmerte in seiner Brust. Jetzt blieben ihm nur noch zwei Möglichkeiten: Er könnte die Suche nach dem Drachenkelch fortsetzen oder einen Weg ersinnen, Serena aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
Nein.
Er sah nur eine Möglichkeit. Mit festem Schenkeldruck versetzte er den Zelter in eine schnellere Gangart, um zu dem Wagen aufzuschließen, aber da bäumte sich das Tier auf. Zwei Reiter versperrten ihm den Weg, während sich andere Berittene von hinten näherten. Rand sah sogleich, um wen es sich bei dem Anführer handelte, obwohl er ihm noch nie Auge in Auge gegenübergestanden hatte.
»Draec le Nantres«, grollte Rand und schob den Gedanken an Serenas erschütternde Worte beiseite, um sich auf diese neue Gefahr einzustellen.
Der Ritter mit dem rabenschwarzen Haar lächelte und neigte in höfischer Manier kurz den Kopf. »Randwulf of Greycliff. Ihr besitzt ein bedeutendes Stück des Kelchs. Habt Dank, dass Ihr ihn mir bringt. Mein Auftraggeber wird sehr zufrieden sein, wenn er erfährt, dass Ihr uns die Mühe erspart habt, unnötig lange nach Euch zu suchen.«
»Ich habe den Kelch nicht. Aber selbst wenn ich ihn hätte, so dürft Ihr doch nicht einen Moment lang glauben, dass ich ihn Euch aushändigen würde.«
»Ach nein?« Le Nantres gab ein Glucksen von sich und warf einen kurzen Blick auf das Fuhrwerk, das sich mit der Gefangenen entfernte. Als sich der Ritter Rand wieder zuwandte, beherrschte Hochmut seine Züge. »Das werden wir dann sehen. Wachen, ergreift ihn. Nehmt ihm die Waffe ab und durchsucht ihn.«
»Nur zu«, entgegnete Rand unbeeindruckt.
Von allen Seiten von blankem Stahl bedroht, erkannte er, dass jeglicher Widerstand zwecklos war. Zumal mindestens einer von le Nantres’ Begleitern ein gefährlicher Gestaltwandler war. Er könnte nichts mehr für Serena tun, wenn er hier sein Leben ließe. Die Waffen, die auf ihn gerichtet waren, sprachen ihre eigene Sprache – also ergab Rand sich de Mortaines anmaßendem Leutnant.
Als sie ihn vom Pferd zerrten und mit groben Händen nötigten, in Richtung der Burg zu gehen, warf Rand einen Blick zurück auf den Wagen, der weiter unten auf dem Weg in die Stadt dahinholperte. Serena in ihrem bläulichen Gewand wurde immer kleiner und kleiner und schien für ihn auf immer unerreichbar zu sein.
28
Seit Stunden saß sie nun schon in dem Käfig fest. Inzwischen war es Nacht, und der Marktplatz war fast leer. Eine einsame blakende Pechfackel knisterte neben dem Fuhrwerk. Nur ein paar Schaulustige, die die Hexe sehen wollten, kamen noch an die Gitterstäbe, grinsten Serena hämisch an und überhäuften sie mit üblen Schimpfworten. Eine ältere Frau warf einen halb verrotteten Kohlkopf gegen die Eisenstäbe und verschwand dann mit einem bösen Kichern in einer der dunklen Gassen.
Es kümmerte Serena nicht, wie sie von den Bewohnern von Egremont behandelt wurde. Viel schlimmer schwärte in ihrem Herzen die Erinnerung an den Augenblick, als Rand wortlos vor ihr zurückgewichen war. Gewiss, seine Reaktion war nachvollziehbar, da Serena doch wusste, wie abgrundtief er Silas de Mortaine hasste. Warum sollte er den Nachfahren dieses bösartigen Menschen andere Gefühle entgegenbringen?
Serena machte ihm keinen Vorwurf, ihr den Rücken gekehrt zu haben. Tatsächlich war sie sogar froh, denn sie betete inständig, er möge die Gelegenheit nutzen und Egremont so schnell wie möglich verlassen,
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