Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
solange sich de Mortaine und dessen Helfershelfer mit ihr abgaben. Wahrscheinlich war dies Rands einzige Möglichkeit, Silas in diesem tödlichen Spiel zu besiegen. Jetzt, da sie mit eigenen Augen – mit der Kraft der Ahnung – gesehen hatte, welch verdammenswürdige Verbrechen de Mortaine auf der Suche nach dem Drachenkelch begangen hatte, begriff sie, wie wichtig es war, diesem Mann das Handwerk zu legen. Und zwar so rasch wie möglich.
Wenn sie ihr Leben opfern müsste, um Rand zu helfen, dann würde sie ihr Schicksal eben hinnehmen.
»Weißt du, ich habe mich in all den Jahren oft gefragt, was wohl aus Calandra geworden ist.«
Die Stimme kam aus der Dunkelheit, aber Serena wusste sofort, wer dort sprach, und der betont kultivierte Tonfall jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Sie wich von den Gitterstäben zurück und beobachtete, wie sich Silas de Mortaine aus den Schatten löste und wie eine Geistererscheinung in seinem weißen, mit goldenen Fäden durchwirkten Gewand auf das Fuhrwerk zuschritt.
»Dieses Gewand«, fuhr er fort und deutete auf Serenas Kleid, »entstammt einem Ort, an dem sich nur wenige jemals befunden haben. Aus einem Reich, über das ich bald zu herrschen gedenke. Das Gewand gehört Calandra, und du bist ohne Zweifel in ihrer Obhut.«
Leichtfüßig näherte er sich dem Fuhrwerk und maß Serena mit einem kühlen Blick, unter dem sie erschauerte. Dann steckte er die Hand durch die Gitterstäbe, als wolle er die Gefangene berühren, doch Serena wich zurück, erfüllt von Abscheu, wieder in der unmittelbaren Nähe dieses Mannes ausharren zu müssen.
Das feinsinnige Lächeln, das er aufsetzte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, was für ein Dämon in Wirklichkeit jenseits der Gitterstäbe stand. Gleichgültig zuckte Silas die Achseln. »Was, willst du deinen alten Großvater nicht umarmen?« Er kicherte und schien an der widersinnigen Begegnung plötzlich seinen Spaß zu haben. »Oder müsste ich nicht vielmehr sagen, dein Urahn … ach, wie dem auch sei. Wir sind verwandt, das lässt sich gar nicht leugnen, jetzt, da ich dich genauer anschaue.«
»Ich wünschte, Euer Blut würde nicht in meinen Adern fließen«, erwiderte Serena trotzig. »Lieber wäre ich tot und begraben, als einen Tropfen Eures verderbten Blutes in mir zu haben.«
Aus dem eben noch wohlwollend wirkenden Lächeln wurde nun ein abstoßendes Zähneblecken. Ein grausamer Zug erschien in Silas’ Miene, als er mit einem höhnischen Unterton sagte: »Alles zu seiner Zeit, mein Kind. Der Tod muss noch warten. Zuerst musst du mich zu Calandra führen.«
»Nichts werde ich für Euch tun. Und es ist mir gleich, was Ihr mit mir vorhabt.«
»Vielleicht sollte es dir aber nicht gleich sein«, erwiderte er leichthin. »Die Bewohner von Egremont wollen die Hexe brennen sehen. Ein abergläubischer Haufen, diese Leute hier im Norden. Einige Jäger behaupten, dich im Wald wenige Stunden südlich der Stadt gesehen zu haben, wie du deine Hexenkunst erprobtest. Es heißt, dass du mit einer weißhaarigen Vettel in einer Waldhütte lebst, nicht weit von einem Wasserfall entfernt. Mir fiel ein, dass ich diesen Wasserfall kenne, von dem die törichten Narren sprachen, und ich weiß auch, dass die Frau keineswegs eine alte Vettel ist. Wenn Calandra noch lebt, genau wie ich, und wenn sie in der Nähe dieses Wasserfalls geblieben ist, den sie und ich vor langer Zeit durchquerten, als wir aus Anavrin flohen und ich den Drachenkelch unter meinem Umhang verborgen hatte, dann gibt es einen Grund dafür. Kein Zweifel, diese gerissene Frau hat in all den Jahren gegen mich gearbeitet.«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, entgegnete Serena, erschrocken von der Vorstellung, dass dieser Mann seinen boshaften Blick auch auf Calandra heften würde.
»Ich werde sie ohnehin aufspüren, mein Kind. Dennoch wirst du mich zu ihr führen, denn du möchtest gewiss nicht, dass sie Folter erleiden muss. Sie wird sich nach dem Tod sehnen, den ich dir zugedacht habe. Denk darüber nach.«
Serena stockte bei diesen grausamen Worten der Atem. Es bestand kein Zweifel, dass Silas seine Drohung ernst meinte, und obwohl sie versuchte, den Mut nicht sinken zu lassen, durchlebte sie eine furchtbare Angst.
»Noch zu dieser Stunde brechen wir auf. Meine Wachen werden dich holen.«
Die Zeit verging viel zu schnell. Obwohl es eine Qual für sie war, in dem engen, stinkenden Käfig auszuharren, war die Vorstellung, von de Mortaine und dessen Gefährten
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