Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
zurecht. Eine ist für die andere da. Hier stört uns niemand.«
Jedenfalls bis jetzt nicht.
Die unausgesprochenen Worte hingen in der stickigen Luft der kleinen Kate. Der Fremde schwieg wieder. Serena spürte, dass er sie betrachtete, und diesmal traute sie sich, vorsichtig über die Schulter in seine Richtung zu schauen. Tatsächlich haftete sein raubvogelartiger Blick auf ihr, halb verdeckt vom Schattenspiel des unsteten Feuerscheins.
»Ich habe nicht vor, dir und deiner Mutter etwas zuleide zu tun.«
Es war eine einfache Feststellung, die offenbar ehrlich gemeint war, wenn Serena den ernsten Blick des Mannes richtig deutete. Doch die Gabe der Ahnung rief noch immer ein Kribbeln in ihren Fingern hervor und wisperte ihr schwarze, scharfe Worte zu.
Unbändiger Zorn. Vernichtung. Vergeltung.
»Ich bezweifle, dass Ihr in friedlicher Absicht gekommen seid«, merkte sie an und strich mit der behandschuhten Linken ihre Röcke glatt. Doch auch durch diese Bewegung wurde sie die seltsamen Empfindungen nicht los, die sich durch ihren Leib schlängelten.
»Nur ein niederträchtiger Schurke würde einer wehrlosen Frau etwas antun.« Bei diesen Worten sah er unverwandt zu ihr herüber – da schwangen Gefühle in seiner Stimme mit, die sie nicht zu deuten wusste. Seine Augen verengten sich, sein Blick wurde hart. Schließlich zuckte er die Schultern. »Mir ist es gleich, was du denkst. Ich bin nur hier, weil das Schicksal es nicht gut mit mir meinte und mich diesem Sturm aussetzte.«
»Euer Schiff ist gesunken?«
»Das weiß ich nicht, ich wurde über Bord gespült.«
»Ihr blutet«, sagte sie, und ihr Blick huschte zu den scharlachroten Wunden an seinem Körper. Es waren hässliche Risswunden, als habe ein wildes Tier seine Krallen in sein Fleisch geschlagen. »Ihr wart nicht der Einzige, der in dem Sturm unterging.«
Er achtete kaum auf ihr Mitgefühl oder seine brennenden Wunden, sondern begegnete ihrer besorgten Miene nur mit einer leicht hochgezogenen Braue. »Ein anderer Mitreisender wurde ebenfalls von Bord gerissen, ja. Er hat nicht überlebt.«
Der Bemerkung wohnte etwas Nüchternes, sogar Kaltes inne.
Er ist erbarmungslos, schlich sich das Wispern der Ahnung in ihre Gedanken. Unnachgiebig. Gefährlich.
»Wohin segelte Euer Schiff?«
»Warum willst du das wissen?«
Serena blinzelte, eingeschüchtert von seinem offenkundigen Argwohn. Nie hatte sie die Waldgebiete verlassen, in denen sie zu Hause war. Nie hatte sie mit jemand anderem gesprochen als mit ihrer Mutter oder all den Tieren, die in den Wäldern wohnten. Zugegeben, meist waren es recht einseitige Gespräche. Serena hatte so viele Fragen, war so voller Neugier, doch niemand war bereit oder in der Lage, ihren Wissensdurst zu stillen.
Und nun war dieser Fremde gekommen, dieser faszinierende Mann, der einer Welt entstammte, die ihr vollkommen fremd war. Ihre Furcht vor dem unwillkommenen Gast verblasste neben ihrer Neugier ein wenig.
Mochte seine Gegenwart auch eine unbestimmte Unruhe in ihr hervorrufen, sie verspürte das Verlangen, diesem Fremden Fragen zu stellen. Ihre Beweggründe bestanden in ihrem Wunsch nach Gesprächen und nicht zuletzt in ihrer Begierde, all das kennenzulernen, was außerhalb ihrer kleinen Welt lag. Gewiss würde ihre Mutter es nicht gutheißen, dass sie sich mit dem Mann unterhielt, aber im Augenblick konnte Calandra sie nicht schelten. Die nächste Quelle war knapp zweihundert Schritte von der Hütte entfernt; ihre Mutter würde demnach nicht so rasch zurückkehren.
»Es ist nicht meine Absicht, Euch mit Fragen zu überhäufen, aber für uns ist es ungewohnt, dass blutverschmierte, schiffbrüchige Fremde an die Küste gespült werden, unsere Behausung in Beschlag nehmen und Hilfe von uns verlangen«, erklärte Serena leise und beinahe scheu, um ja nicht den Zorn dieses Mannes zu schüren, der zweifellos tief in ihm schwelte. »Daher empfinde ich es nur als natürlich, ein paar Fragen zu stellen. Woher Ihr kommt, wohin Ihr reisen wolltet … oder wenigstens, wie Euer Name lautet.«
»Ich heiße Randwulf of Grey…« Er unterbrach sich, da huschte ein Schatten über seine undurchdringliche Miene. »Die meisten Leute nennen mich Rand. Mehr brauchst du nicht über mich zu wissen, Serena.«
Als sie ihren Namen aus seinem Mund vernahm, verspürte sie eine unerklärliche Hitze in den Wangen. Langsam, beinahe gedehnt hatte er die Laute ihres Vornamens ausgesprochen, und der weiche Klang ihres Namens hatte sie wie eine
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