Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
brauchte, wenn er zu einem Abenteuer aufbrach … oder zu dem unheilvollen Auftrag, der sein ganzes Denken zu beherrschen schien.
Endlich war sein Durst an frischem Wasser gestillt. Mit dem Unterarm strich er sich über den feuchten Mund und legte die leere Schale ab. »Gib mir den Eimer«, befahl er.
Serena kam der Aufforderung nach, stellte den Eimer neben ihn und trat zurück, damit er ihn füllen konnte.
»Ich bin froh, dass Euer Schmuck nicht ruiniert ist.«
Er warf einen Blick auf den Anhänger, der pendelnd gegen seine bloße Brust schlug. Ihrer Besorgnis begegnete er mit einem Schulterzucken. »Die Schließe ist schwach, aber vorerst wird sie halten.«
»Der Anhänger ist schön.«
»Er gehört meiner Frau.«
»Oh.« Serena verspürte einen eigenartigen Stich, als sie hörte, dass er verheiratet war; Neugier stritt gegen äußerste Überraschung. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ein so einsilbiger, distanzierter Mann die Gesellschaft anderer Menschen suchte, geschweige denn verheiratet war. Mit einer Dame, die nun von ihm getrennt sein musste, da er doch mit finsteren Absichten an diesem einsamen Küstenstreifen gestrandet war. »Wartet sie irgendwo auf Euch?«
Er schwieg eine ganze Weile, während er Wasser aus dem Brunnen in den Eimer füllte. »Ja, sie wartet auf mich. Sie und mein kleiner Junge.«
»Euer Sohn?«, erwiderte Serena und spürte, dass sie sich nun gegen ihren Willen für diesen fremden Mann erwärmte. »Wie alt ist er? Wie heißt er?«
»Du stellst eine Menge Fragen.«
»Ich bin nur … neugierig. Ich wollte nicht in Euch dringen.«
»Todd«, sagte er nach einer Pause und goss noch mehr Wasser in den Eimer. Dann schaute er zu ihr auf, und Serena entdeckte einen Anflug von zärtlichen Gefühlen in den braunen Augen des Mannes. »Mein Sohn heißt Todd. Im letzten Winter wurde er sechs Jahre alt.«
»Er wird Euch sicherlich furchtbar vermissen«, sagte sie, sah sie doch, dass sich die harten Züge des Kriegers glätteten, sobald er von seiner Familie sprach. »Seid Ihr schon lange von ihnen getrennt?«
»Achtundfünfzig Tage.« Diese Antwort kam so rasch, als habe er jede einzelne Stunde seit dem Abschied gezählt. »Und ich fürchte, ich werde sie erst in einer Ewigkeit wiedersehen.«
»Das tut mir leid«, sagte Serena. Sie wusste nicht, warum sie das Bedürfnis verspürte, ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, konnte es indes nicht für sich behalten.
Der Blick, den er ihr zuwarf, verriet, dass er nichts auf warme Worte gab. Tatsächlich vermittelten die harten Linien um seinen Mund eher den Eindruck, als habe Randwulf für Freundlichkeit nur Verachtung übrig. Mit finsterer Miene widmete er sich wieder seiner Arbeit am Brunnen.
»Du kennst dich gut in dieser Gegend aus«, merkte er an. »Wie weit erstrecken sich diese Wälder?«
»Einen halben Tagesmarsch in alle Richtungen, würde ich schätzen.«
»Du weißt es nicht genau?«
Serena zuckte die Schultern. »Ich komme nicht oft an den Waldrand. Meine Familie lebt seit Generationen in diesem Wald, in eben jener Hütte, die ich mir heute mit meiner Mutter teile. Es gab selten Anlass, die Grenzmauer zu überschreiten.«
»Die Grenzmauer?«
»Ja«, erwiderte sie. »Eine niedrige Mauer aus Steinen, die meine Vorfahren anlegten, um die äußerste Grenze unseres Landes zu markieren.«
»Und was ist mit der Stadt, die du erwähntest – Egremont? Sie liegt nördlich dieser Wälder?«
»Ganz recht. Egremont ist die nächste Siedlung.«
»Wie viele Menschen leben dort? Wer gebietet über Egremont?«
Serena schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich weiß überhaupt nicht viel über diesen Ort, denn ich bin nie dort gewesen.«
»Du bist nie dort gewesen?« Er stieß die Luft durch die Nase aus, als könne er ihren Worten nicht glauben. »Nicht einmal, um Nahrungsmittel zu kaufen?«
»Uns fehlt es hier an nichts. Es gibt keinen Grund, den Wald zu verlassen.«
Immer noch schöpfte er Wasser aus dem Brunnen. »Du und deine Mutter, ihr seid eigenartige Leute, Serena.« Er musterte sie mit einem verstohlenen Blick. »Ich kann nicht sagen, dass ich euch beiden vertraue.«
Serena sah ihrerseits auch wenig Grund, ihm Vertrauen entgegenzubringen, doch das behielt sie lieber für sich.
»Wenn Ihr Egremont unserer bescheidenen Behausung vorzieht, dann könnt Ihr etwas Wasser und Verpflegung mitnehmen und noch heute aufbrechen.«
Nun lächelte er, doch der spöttische Zug um seinen Mund verriet ihr, dass er sehr genau
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