Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
verändert.
»Wie weit ist es bis zu diesem Brunnen?«, wollte er wissen, als sie sich schon recht weit von der Hütte entfernt hatten.
Serena antwortete ihm, ohne sich die Mühe zu machen, sich umzudrehen. »Wir sind gleich da.«
Mit Absicht hatte sie den Weg eingeschlagen, der zu einer weiter entfernten Quelle führte. Der kürzere Weg zum frischen Wasser hätte sich durch das Unterholz gewunden – ein Pfad, den nur sie und ihre Mutter kannten. Der längere Weg schlängelte sich tief durch das Dickicht zu einem zweiten Wasserloch hin, das sich aus der Hauptquelle speiste. Der Pfad war kaum noch zu erkennen. Rand fluchte, als er unter dem frischen Sommergrün auf Nesseln und scharfe Steine trat. Serena indes umging jedes Hindernis sicher und gewandt.
»Hier entlang«, sagte sie, verließ den Pfad und wandte sich einem kleinen Hang zu, den sie hinablief.
Da sie nicht annähernd so groß wie er war, konnte sie den niedrig hängenden Ästen und spitzen Dornen besser ausweichen. Doch ihre Schadenfreude hielt sich in Grenzen, als sie sich ihren Weg zu dem kleinen Brunnen bahnte, der für das ungeübte Auge schwer auszumachen war.
Sie führte Rand zu der Stelle und blieb stehen, während er auf den kleinen Granitstein schaute, der in den moosigen Untergrund des Waldes eingebettet war. Dieser Stein war alt – uralt, wie ihre Mutter ihr erklärt hatte. Womöglich hatten ihn die ersten Bewohner dieses Waldgebiets an diese Stelle gelegt. Die von Hand geritzten Zeichen auf der rauen Oberfläche waren längst verwittert und unleserlich. Die Kunstfertigkeit war durch die Zeit und das Einwirken der Elemente verblasst. Serena hatte sich immer schon gefragt, was die Einkerbungen bedeuten mochten, die den Quell bedeckten; das seltsame Muster auf dem mit Flechten überzogenen Stein verwirrte und fesselte sie gleichermaßen.
Rand hingegen schenkte der Schönheit der Felseinritzungen keinerlei Beachtung. »Das Wasser ist hier drunter?«, fragte er und ging in die Hocke, die großen Hände bereits um den Stein gelegt.
Serena nickte. Ohne ein weiteres Wort hob er den Stein an, legte ihn zur Seite und schaute in das Wasser. Er beugte sich vor, hielt eine Hand in den Brunnenschacht und holte die hölzerne Schöpfschale hervor, die auf der Wasseroberfläche schwamm. Etwas von dem kühlen Nass schwappte aus dem Gefäß und lief Rand über den Arm.
»Riecht frisch. Kann man es bedenkenlos trinken?«
»Ja«, erwiderte Serena, als der reine, mineralische Duft des Brunnenwassers auch ihre Nase umfing. »Meine Mutter und ich, wir trinken jeden Tag aus dieser Quelle.«
Er sah sie einen Moment lang prüfend an, ehe er ihr die Holzschale hinhielt. »Dann trink.«
Rand wollte sie auf die Probe stellen, dessen war sie sich sicher. Er schien ihr nicht zu glauben und misstraute ihr schon bei der Frage des Wassers. Aber sie hatte die Wahrheit gesagt, als sie das Wasser für trinkbar erklärt hatte. Serena nahm die Schöpfschale aus dunklem Holz und führte sie an die Lippen. Nach der unruhigen Nacht hatte sie schrecklichen Durst, und das Wasser kühlte ihre Zunge. Sie trank die Schale aus und reichte sie wieder Rand. Er lächelte, und ein flüchtiger Ausdruck von Zufriedenheit huschte über sein Gesicht, als er die Schale erneut in den Brunnen tauchte und seinen Durst stillte. Dreimal füllte er das Gefäß nach und trank, als könne er nicht genug von dem Wasser bekommen.
Serena beobachtete ihn stumm und sah, wie dem Fremden dünne Rinnsale über das Kinn und den Hals liefen, bis hinab auf die sonnengebräunten Partien seiner kraftvollen Brust. Er trug die kleine Kette mit dem herzförmigen goldenen Anhänger wieder um den Hals, deren Schließe aufgegangen war, als Serena das Kettchen unten am Strand in die Hand genommen hatte. Das wertvolle goldene Metall glänzte auf seiner Haut. Die hell funkelnden Kettenglieder und der fein gearbeitete Anhänger wirkten an einem so harten und rauen Mann recht eigenartig.
Serena musste an die Märchen ihrer Mutter denken, in denen die Damen ihre Auserwählten mit Zeichen der Zuneigung bedachten – mit farbenprächtigen Tüchern, Schleifen oder Ringen. Sie fragte sich, ob dieses goldene Kleinod wohl das Geschenk einer Dame war, die Rand gekannt hatte. Eine Dame vielleicht, die diesen zornerfüllten Mann geachtet hatte – ihm gar in Liebe zugetan gewesen war? Serena wusste kaum etwas über ihn, aber die Vorstellung fiel ihr schwer, dass dieser gefährliche Krieger irgendein kleines Erinnerungsstück
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