Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
Wald noch dichter, der Boden unebener und steiler. Der nunmehr felsige Untergrund erschwerte die Schritte. Serena blickte zurück, um zu sehen, wie Rand vorankam, aber warum sie sich überhaupt Gedanken darüber machte, vermochte sie nicht zu sagen. Die Anstrengung zeichnete sich in seinem Gesicht ab, doch er hielt mit Serena Schritt, obwohl sich sein Körper noch nicht von den Verletzungen erholt hatte. Sie bezweifelte, dass er zu denjenigen gehörte, die schnell aufgaben, selbst wenn er sich der Pforte des Todes näherte.
In der kurzen Zeit, die er erst bei ihnen war und sich mit seinem schwelenden Zorn und seiner anmaßenden Art in ihr Leben drängte, hatte sie ihn als einen unnachgiebigen Menschen erlebt. Zwar hatte man sie nicht gelehrt, eine derartige Eigenschaft zu bewundern, aber Serena hatte Achtung vor der Zielstrebigkeit und Entschlusskraft dieses Mannes. Und derjenige, den er zu vernichten gedachte, tat ihr jetzt schon leid.
Vergeltung, zischte nun die Ahnung und rief ihr die düsteren Absichten des Fremden in Erinnerung, die sein ganzes Denken und Handeln bestimmten.
Beherrscht von Gedanken an Rache und Mord, war er an diese Küste gespült worden, aber was genau hatte er im Sinn? Ihm und seiner Familie war ein Unrecht widerfahren, vermutete Serena, da sie sich der Traurigkeit in seiner Stimme entsann, als er von den Seinen gesprochen hatte. Er war von ihnen getrennt worden, ein Umstand, den sich Serena nicht vorstellen konnte. Ihre Mutter war alles, was sie hatte; wie sehr würde sie Calandra vermissen, wenn sie eines Tages von ihr ginge. Aber getrennt zu sein von einem Kind und der Geliebten … sie hoffte, diese Einsamkeit niemals durchleben zu müssen.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte sie und drehte sich mit einem aufmunternden Lächeln zu ihm um.
Doch er erwiderte den Blick nicht. Sein braunes Haar fiel ihm wirr in die Stirn, und er gab nur einen schroffen, abweisenden Laut von sich.
Schweigend gingen sie den Rest des Weges, bis das Rauschen des Sturzbachs sie umfing. Serena ging um den Stamm einer weit ausladenden, alten Esche herum und wandte sich Randwulf zu.
»Wir sind da.«
Er nickte kurz und trat dann an ihr vorbei, wobei er die linke Hand nach hinten streckte, ganz so, als wolle er Serena zurückhalten, bis er die Gegend für sicher erachtete. Es wirkte wie eine beschützende Geste, die er unwillkürlich machte, und Serena wartete geduldig, bis er ihr bedeutete, ihm zu folgen.
Wie immer raubte ihr der Anblick dieses Ortes den Atem.
Weiße, sprühende Wasserschleier ergossen sich über eine Felswand aus Granit, die schroff und steil auf der anderen Seite des Teichs aufragte. Goldene Sonnenstrahlen fluteten durch das Blätterdach des Waldes, lange Lichtbänder, die in den Nebeln des Wasserfalls gebrochen wurden. Rote, orangefarbene, gelbe und grüne Farbschattierungen vermischten sich mit violetten und blauen Lichtstreifen und bildeten einen farbenprächtigen Bogen, der jeden Betrachter in seinen Bann schlug. Frisches, kristallklares Wasser füllte den natürlichen Weiher unterhalb des strahlenden Bogens. Sanft gekräuselte Wellen liefen über die Oberfläche des Teichs, die der schäumende Sturzbach beständig in Bewegung hielt. Aber Serena wusste, dass unterhalb des Wasserspiegels Ruhe und Wärme zu finden waren.
Der Weiher war so klar wie der Himmel im Sommer, und obwohl man von der Stelle, an der sie und Rand standen, bis auf den Grund sehen konnte, trügte dieser Anblick, denn der Teich war so tief wie die See. Schon als Kind war Serena darin geschwommen, doch nie hatte sie Luft genug gehabt, um den glatten Felsgrund zu berühren, der stets nur eine Armeslänge entfernt zu sein schien.
»Beeindruckend.«
»Ja, es ist großartig«, stimmte Serena zu und konnte den Blick von dem wundervollen Schauspiel, das die Kaskaden boten, nicht losreißen.
Rand indes sah nur einen Moment lang auf das Naturschauspiel und ließ den wachsamen Blick dann durch den Wald schweifen. Serena fragte sich, wie er die Schönheit der Natur nur mit solcher Missachtung strafen konnte? Unzählige Male hatte sie den Wasserfall bestaunt – mindestens einmal am Tag – , und nie war sie von dem glitzernden, rätselhaften Wunder dieses Ortes unbeeindruckt geblieben.
Diesem Platz wohnte ein Zauber inne, da war sie sich sicher. Aber Rand hatte dafür keine Augen. Wie traurig für ihn, dass er die einzigartige Ausstrahlung des Wildwassers nicht wahrnehmen konnte – oder wollte. Die Brauen zusammengezogen,
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