Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
wandte er sich abrupt von dem Teich ab und entfernte sich von Serena. Widerwillig folgte sie ihm, denn nur ungern verließ sie den Sturzbach, jetzt, da sie einmal dort waren. Sie wusste nicht, was Rand zum Weitergehen bewog, aber seine Aufmerksamkeit galt dem dornigen Dickicht, das sich einige Schritte entfernt befand.
Sowie er die Hecke erreichte, ging er in die Hocke und betrachtete etwas am Boden. Serena kam vorsichtig näher und erkannte mit einem Mal, was er entdeckt hatte. Furcht ergriff sie, durchsetzt von einem Gefühl der Empörung.
Auf dem Boden, halb verdeckt von den Pflanzen, waren kleinere Steine in einem Halbbogen angeordnet. An der offenen Seite war die Spitze eines biegsamen Schösslings mit einer kräftigen Schnur am Boden befestigt. Geschickt hatte man die kleine Schlinge mit lockerer Erde und einer Handvoll Körnern verdeckt.
Rand deutete auf das Gebilde. »Weißt du, was das ist?«
»Ja, gewiss«, erwiderte sie. »Damit kann man Tauben jagen. Es ist eine Falle.«
Gepackt von Wut und Entsetzen, drängte sie sich an ihm vorbei. Schon kniete sie im Unterholz und griff nach der gespannten Schnur, um die schreckliche Tötungsvorrichtung zu zerstören.
»Serena. Lass das.« Rand hielt sie zwar nicht am Arm zurück, aber seine strenge Stimme ließ sie innehalten. »Hast du schon andere dieser Art gesehen?«
Sie nickte. »Letzten Monat fand ich zwei davon, aber die waren tiefer im Wald, näher an der Steinmauer. Ich habe sie zerstört – genau wie ich diese hier zerstören werde.«
Rand rückte näher an sie heran. »Lass das. Sonst verrätst du den Jägern, dass du mit deiner Mutter hier lebst.«
»Das ist aber unser Wald«, entgegnete sie entschieden, obwohl eine leise Furcht sie beschlich. »Die Geschöpfe, die hier leben, sind meine Freunde. Wir tun keinem Wesen etwas zuleide. Darum werde ich nicht dulden, dass Leid über uns kommt. Ich werde es nicht zulassen.«
»Glaubst du, dass es so einfach ist?« Rand schüttelte den Kopf und bedachte sie mit einem Blick, aus dem sowohl Heiterkeit als auch Mitleid sprachen. »Diese Waldgebiete gehören dem König, wie alle Wälder im Königreich. Diese Falle stammt nicht von irgendeinem niederen Wilddieb. Nur Edelleute haben die Erlaubnis, auf die Jagd zu gehen; und der Herr, der diese Fallen aufgestellt hat, hat ein Anrecht auf das Wild. Wenn du eine solche Falle zerstörst, so vergehst du dich an seinem Eigentum. Jeden, der hierherkommt und die Fallen überprüft, stößt du mit der Nase darauf, dass eine törichte junge Frau und ihre Mutter auf königlichem Boden leben und den König jedes Mal bestehlen, wenn sie eine Mahlzeit einnehmen oder ein Feuer entzünden, um die Hütte zu heizen.«
Empört stieß Serena die Luft aus und erhob sich. »Das mögen Eure Regeln sein – aufgestellt von Männern, aber ich halte mich nicht daran.«
»Ob du es nun magst oder nicht, so lauten die Gesetze dieser Welt. Diesem Beweis hier kannst du entnehmen, dass die Leute, die du verachtest, bald vor eurer Tür stehen werden.«
Diese Aussicht gefiel ihr überhaupt nicht, aber Rands Worte ließen sich nur schwer widerlegen. Schon seit geraumer Zeit hatte sie das Gefühl, dass der Wald um sie herum kleiner wurde. Die steinerne Mauer war mitunter nur noch schwer auszumachen, da Bäume zwischen den Steinen wuchsen und die Siedlung sich immer weiter in Richtung Wald ausbreitete. Diese Falle war nicht das erste Anzeichen von Menschenhand, aber noch nie zuvor war jemand so weit in den Wald vorgedrungen. In ihrem Herzen ahnte sie, dass sie bald noch mehr von den Menschen sehen würde, und das machte ihr Angst.
»Für meine Mutter und mich ist es nur hier sicher. Dies ist unser Zuhause. Seit nun schon neunzehn Sommern lebe ich hier, meine Mutter sogar noch länger, und nie hatten wir Schwierigkeiten.«
Wieder warf sie einen Blick auf die Falle, deren tödliche Springvorrichtung kaum zu sehen war. Die mit Bedacht ausgestreuten Körner würden jede arglose Taube anlocken, den Köder aufzupicken.
»Lass sie«, wiederholte Rand, als spüre er, wie gern sie diese Falle zerstört hätte, mochte sie sich dadurch nun den Jägern zu erkennen geben oder nicht. »Lass sie so stehen.«
Sie dachte an die kaltherzigen Menschen, die diese Falle aufgestellt hatten. Unwissende Männer, denen nichts an der Schönheit der Natur lag. Dies war nur eine Falle; es hatte andere gegeben, und es würden noch mehr von dieser Art aufgestellt werden. Wo sollte das aufhören, wenn nicht hier und
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