Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
damals noch heute. Die Erinnerung würde ihn immer quälen, und diejenigen, die ihr Leid zugefügt hatten, würden für ihre Untaten büßen.
Er durfte sich nicht von einer eigenartigen jungen Frau ablenken lassen, deren Augen so tief wie die See waren und die eine sonderbare Anziehung auf ihn ausübte.
Bei Gott, in ihrer Seele schien sie all die hässlichen Wahrheiten zu ahnen, konnte mit nur einem Blick und der leichtesten Berührung in seinem Herzen lesen.
Er war sich nicht sicher, warum er Serena in dem Glauben ließ, seine Familie sei wohlauf und warte auf seine Rückkehr. Womöglich wollte er nicht nur sich, sondern auch Serena schützen, denn sowie sie erführe, was er im Sinn hatte, würde sie vermutlich in Gefahr geraten. Inzwischen waren ihm seine Feinde gewiss auf der Spur, was er insgeheim sogar hoffte.
Mehr als das wünschte er allerdings, den nötigen Abstand zu Serena zu wahren. Er durfte nicht vergessen, aus welchem Grund er diese Reise angetreten hatte. Denn sonst käme er gar in Versuchung, die vielen fesselnden Reichtümer des unberührten Waldes zu betrachten, nicht zuletzt die junge Frau, die den Geschöpfen des Waldes Schutz bot – wie ein unerschrockener Ritter, der sein Land verteidigt.
Sie war eigenartig. Und bei Weitem viel zu fesselnd.
Rand verließ den Waldsaum und fand sich auf dem langen Küstenstreifen wieder. Seine bloßen Zehen versanken in dem warmen hellbraunen Sand, ein kleiner, aber beruhigender Trost nach dem rauen Waldboden. Er atmete die frische, salzhaltige Seeluft ein, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es war Ebbe, die sanften Wellen schlugen leicht an den nun breiten Strandgürtel. Die zurückweichenden Wasser ließen Holz, Seetang und anderes Treibgut auf dem Sand liegen. Rand ging den Strand hinunter und suchte mit seinen Blicken den Küstenverlauf ab. Vielleicht war ihm das Glück ja hold und führte ihn geradewegs zu dem vermissten Schatz.
Ja, das war es, was er nun brauchte: Glück. Und seine Verletzungen mussten rasch verheilen, damit er den unfreiwilligen Aufenthalt bei Serena und ihrer Mutter beenden konnte. Dann würde er weiter auf dem einmal eingeschlagenen Weg der Rache voranschreiten.
6
Weiter nördlich an dem gleichen Küstenstreifen gab die Ebbe etwas weitaus Bemerkenswerteres frei als Seetang und Treibholz. Ein Fischer aus Egremont holte sein Netz ein und staunte, wie viel sein Tagesfang wog. Seit kurzer Zeit hatte er wenig Glück beim Hinausfahren gehabt; aber die Pechsträhne, so glaubte er, wäre nun vorbei. Keuchend malte er sich im Geiste schon aus, wie viel er für all die Fische auf dem örtlichen Markt bekäme. Mit einem letzten angestrengten Stöhnen hievte er das pralle Netz über die Bordwand seines kleinen Bootes, wobei er auf dem Hinterteil landete.
Verblüfft starrte der Fischer auf seinen Fang.
Unter den kreuzweise geknüpften Maschen wanden sich keine Schuppen und Flossen. Nicht ein einziger Fisch zappelte im Netz. Der durchgeweichte schwarze Klumpen, den er aus dem Wasser gezogen hatte, regte sich überhaupt nicht. Sogleich stach ihm der Gestank in der Nase – es roch faul und verdorben. Der Geruch der Verwesung. Abgestoßen und doch von Neugier getrieben, riss sich der Fischer die Kappe vom Kopf und presste sie an die Nase. Vorsichtig näherte er sich dem Haufen, um den sonderbaren Fang besser betrachten zu können.
Zunächst hielt er das Tier für einen Hund, denn er sah die steifen Beine und die großen schwarzen Pfoten, die aus dem Netz herausragten. Aber er hatte noch nie einen so großen Hund gesehen. Somit musste es ein Wolf sein, obwohl der Fischer nicht nachvollziehen konnte, wie ein solches Tier sein Ende im offenen Meer finden sollte.
Ein blutiges Ende zumal.
Der Bauch war aufgeschlitzt, als habe ihn eine Klinge getroffen. Raubfische hatten den Kadaver bereits angefressen, die schwer rollende See hatte ein Übriges getan. Dieser Wolf verfügte über einen riesigen Kopf und ein furchteinflößendes Maul, das zu einem weit aufgerissenen Schlund erstarrt war. Und dann die Augen. Bei allen Heiligen, den leblosen Augen wohnte ein höllischer Ausdruck inne, den kein Tier auf Erden besaß.
Bei diesem Gedanken krampfte sich dem armen Fischer der Magen zusammen.
Hastig bekreuzigte er sich und war schon im Begriff, den stinkenden Kadaver wieder über Bord zu werfen, als ihm einfiel, dass ihm der Fang doch noch etwas einbringen könnte. Zwar hatte er keine Fische, die er auf dem Markt hätte feilbieten können, aber
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