Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
vielleicht fänden sich ja ein paar Neugierige, die etwas zahlten, um einen Blick auf den toten Wolf zu werfen. Und vielleicht könnte er noch mehr Kapital aus diesem seltsamen Fund schlagen, wenn er sich eine hübsche Geschichte dazu ausdachte und in der Schenke erzählte.
Für den Rest des Tages und auch am folgenden Morgen war es Rand gelungen, für sich zu bleiben. Er nahm seine Mahlzeiten vor der Hütte ein, zog er es doch vor, sich gar nicht erst an einen behaglichen Platz am Tisch zu gewöhnen. Außerdem wähnte er sich so sicher vor weiteren Fragen und beunruhigenden Beobachtungen seitens Serenas. In der vergangenen Nacht hatte er sogar im Freien geschlafen, und sein geschundener, verspannter Rücken erinnerte ihn nun schmerzlich an das harte Lager. Erneut suchte Rand den Strand ab. Ein tägliches Ritual, das allmählich in Besessenheit ausartete.
Vor Kurzem hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt. Dünne Nebelschwaden bildeten sich, und Rand fror, obwohl es an diesem Juninachmittag warm gewesen war. Er war müde und litt Schmerzen; in der Tat fühlte er sich so erschöpft und ausgelaugt wie nach einem schweren, kräftezehrenden Gefecht oder nach unerbittlichen Schwertübungen, die dem Körper alles abverlangten. Erst jetzt merkte er, dass die im Sturm aufgewühlte See, gegen die er aufbegehrt und beinahe verloren hatte, ihn mehr Kraft gekostet hatte, als er sich einzugestehen bereit war. Die rauen Risswunden von den Klauen des Gestaltwandlers brannten noch immer. Vermutlich hatte er seinen privaten Rachefeldzug gegen Silas de Mortaine schon halb verloren. Dennoch, nach wie vor suchte er den Strand ab und hielt nach dem verlorenen Drachenkelch Ausschau.
Doch bislang hatte er nichts gefunden. Es kam ihm so vor, als hätte sich der goldene Kelch in dem Lederbeutel einfach in Luft aufgelöst. Allmählich glaubte Rand, dass das wertvolle Gefäß für immer verloren sein müsse. Doch ohne den Kelch müsste er sich einen anderen Köder ausdenken, um weiterhin Vergeltung üben zu können. Aber nichts wäre auch nur annähernd so machtvoll wie die gebündelte Kraft von Calasaar und Vorimasaar, denn es gab nichts, das der Erzschurke de Mortaine lieber in seinen Besitz gebracht hätte, als die vier Teile des Drachenkelchs, die er zu einem Ganzen zusammenfügen wollte.
Sobald wie möglich – vielleicht schon in den nächsten Tagen – würde Rand nach Schottland aufbrechen, zu der Kapelle, in der Kenrick of Clairmont das vierte Teilstück des sagenhaften Schatzes vermutete. Das war die einzige Möglichkeit, um an de Mortaine heranzukommen. Dann wäre er nah genug, um zum tödlichen Streich auszuholen.
Rand suchte weiter die Küste ab und hielt dann auf einen Abschnitt zu, wo der Strand an einer Seite zu einem grasbewachsenen Hügel anstieg, unter dem sich eine überhängende Felswand aus schwarzem Gestein befand. Der schroffe Fels ragte ins Wasser, und bei Ebbe wurde die kleine Ausbuchtung sichtbar, die durch die Kraft der Gezeiten geformt worden war. Als Rand näher kam, sah er eine Gestalt vor der ausgespülten Felswand.
Serena.
Halb im Schatten, stand sie dort bis zu den Waden im seichten Meerwasser. Das verblichene rote Kleid und das cremefarbene Untergewand hatte sie gerafft, damit die Kleider nicht am Saum feucht wurden. Ihr Haar hatte sie zu einem dicken schwarzen Zopf geflochten, der ihr nun weit über die Schulter hing. Sie beugte sich leicht vor, um in das Wasser zu ihren Füßen zu schauen. Einige glänzende Haarsträhnen hatten sich in der Brise gelöst; nun umwehten sie ihr Haupt wie seidene Fäden, schwarz wie Ebenholz. Eigenartigerweise sang sie. Der Wind trug die lieblichen, wohlklingenden Laute ihres Gesangs zu Rand hinüber, und für einen Moment fragte er sich, ob er auf eine Sirene des Meeres gestoßen war, bot Serena doch einen einzigartigen, geradezu entrückten Anblick.
Schließlich schaute sie auf und sah, wie er in dem dünnen Bodennebel näher kam. Deutlich spürte er ihren Blick, doch sie grüßte ihn nicht. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit erneut der seichten Stelle, an der sie stand, als sei dies der Mittelpunkt ihres Denkens. Behutsam, die ruhige, getragene Melodie noch auf den Lippen, nahm sie das dunkle Material zur Hand, das sie sich zuvor um die Hüften geschlungen hatte. Seetang, wie er zunächst dachte. Doch als er näher kam, sah er, dass es Maschen waren. Sie nahm die Enden des Netzes und hielt sie wie bei einer rituellen Handlung hoch, als müsse sie der weiten See
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