Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
waren alles andere als fromm gewesen; raue Gesellen und fahrendes Volk waren noch die Ehrbarsten unter all den Schurken gewesen, die seinen Stammbaum bildeten. Daher nahm er keinen Anstoß an der alten Naturverehrung, der sich Serena im Augenblick widmete.
Er ließ ihr die Momente der Ruhe, die sie benötigte. Schweigend stand er neben ihr, den nachdenklichen Blick auf die weite See gerichtet. Das Gebet an eine höhere Macht schien in einem ehrfürchtigen Augenblick wie diesem nicht unangebracht, aber Rand fand keine Worte des Lobes oder des Dankes in einer Welt, die er als leer und freudlos erlebte.
Seit Kurzem, wenn er doch einmal den Kopf zum Gebet senkte, bat er um Zeit und die Gelegenheit, endlich blutige Rache zu nehmen. Tatsächlich würde er seine Seele dem Teufel verkaufen, wenn er sich dadurch einen Vorteil im Kampf gegen den Erzfeind verschaffen könnte. Diesen gotteslästerlichen Gedanken hatte er noch nicht ganz verworfen, obwohl seine Seele ewiger Verdammnis anheimfiele. Er befand sich ohnehin jenseits jeglichen Heils und war bereit, sich am Tag der Abrechnung seinem Schicksal zu stellen.
Neben ihm löste sich Serena aus ihrem nachdenklichen Schweigen. Langsam hob sie den Kopf und richtete ihren beunruhigenden Blick auf Rand.
»Alles ist kostbar«, sprach sie. Er glaubte zu spüren, dass sie ihn einer solchen Wahrnehmung nicht für fähig hielt und ihn dafür bedauerte. Mitfühlend deutete sie auf die beiden Fische in dem Korb. »Selbst das Leben dieser einfachen Geschöpfe ist noch edel und wertvoll.«
Auch Euer Leben, schien sie ihm mit ihrem unverwandten Blick – unter den langen Wimpern hervor – sagen zu wollen.
Es gab eine Zeit, da hätte Rand ihr zugestimmt. Einst hatte er das Leben umarmt, hatte stets ein Lächeln auf den Lippen gehabt und denjenigen beigestanden, die in Not waren. Aber diese Zeit war vorbei. Freundlichkeit oder Mitgefühl konnte er sich nicht leisten, wenn er nicht sicher war, wer Freund und wer Feind war. Für Rand war jeder verdächtig. Silas de Mortaines böser Einfluss reichte weit nach England hinein; seine Fähigkeit, andere Leute zu verderben, suchte ihresgleichen. Ganz zu schweigen von der schwarzen Magie, derer die Abgesandten Anavrins mächtig waren. Eine Hexenkunst ermöglichte es diesen Geschöpfen, sofort eine andere Gestalt anzunehmen – sie konnten sich von einem Tier in einen Menschen verwandeln und umgekehrt. Die gefährlichsten Gestaltwandler allerdings gaukelten den Ahnungslosen Freundlichkeit vor und verbargen ihre bösen Absichten hinter schönen Gesichtern, ehe sie das Trugbild auflösten und zum tödlichen Schlag ausholten.
Nein, Rand würde niemals zu dem ruhigen und friedvollen Weg zurückfinden, auf dem er früher gewandelt war. Er hatte zu viel Finsternis gesehen, um der Vorstellung zu erliegen, jemals wieder an das alte Leben anknüpfen zu können. Zu viel hatte er verloren, um sich dieser törichten Hoffnung hinzugeben. Seine Familie war ausgelöscht. Seine Burg lag in Ruinen, viele Meilen entfernt. Und ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen – allein.
Serenas Stimme war weich und riss ihn aus all diesen tristen Gedanken. »Wie ist es dort … an dem Ort, aus dem Ihr kommt?« Ihre Worte schwebten beinahe durch ihn hindurch.
»Trostlos«, antwortete er sogleich, ohne nachzudenken. Ein schonungsloses und trauriges Bekenntnis, das er nun nicht mehr zurücknehmen konnte. Er hielt Serenas hoffnungsvollem Blick stand und sah, wie sich ein trauriger Ausdruck in ihre Augen schlich, als er fortfuhr: »In der Welt, aus der ich stamme, gibt es Aufruhr, Habsucht und Tod. Finstere Einflüsse beherrschen die Orte, an denen ich weilte. Das sind Dinge, die du besser nie erfährst. Niemand sollte in die Abgründe der Menschen schauen.«
»Gewiss gibt es auch Gutes in der Welt«, sprach sie bedrückt und zog besorgt die Stirn in Falten. »Ich habe gesehen, wie sehr Ihr Eurer Familie zugetan seid. Ihr sagtet, Ihr würdet gern wieder bei Eurer Frau und Eurem Sohn sein.«
Ah, fürwahr. Die Halbwahrheit des Vortages holte ihn nun ein, schonungslos. Doch er wich Serenas Worten aus, zuckte nachlässig die Schultern und blickte wieder auf die endlose See hinaus, stierte in die stahlgrauen Wellen, die sich in der Ferne des Horizonts verloren.
»Meine Familie bedeutet mir alles«, sagte er dann, und das war keine Lüge, sondern eine kalte, leere Wahrheit. »Meine Frau und mein Sohn verkörpern all das Gute und Makellose in dieser Welt.« Schuld
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