Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
Wie kannst du nur daran denken, all das aufzugeben, was wir hier haben, Mutter?«
»Du hast ihn berührt – hast in sein Herz geschaut. Ich habe gesehen, was er dir angetan hat, Serena. Du hast mir zwar nicht gesagt, welch düstere Gedanken dir die Ahnung beschert hat, aber ich bin deine Mutter. Ich weiß von der fürchterlichen Finsternis, die dir schwer zugesetzt und dich all deiner Kraft beraubt hat, als er in jener Nacht zu uns kam. Du willst mir doch nicht weismachen, du wüsstest nicht um die Gefahr, in die uns dieser Mann bringt.«
Nein, das konnte sie nicht leugnen. Das Gefühl war immer noch in ihr, doch es schwand und war nicht mehr als ein fernes Echo. Da Serena ihre Mutter beruhigen und ihr die Sorgen nehmen wollte, versuchte sie, auch den letzten Nachhall von Rands unheiligem Zorn und seinem Blutdurst zu verdrängen. Aber die Ahnung wollte sich Serenas Anstrengungen nicht beugen. Die Gabe durchpulste sie nur noch stärker, sobald Serena sie leugnete. Heiß wie eine Flamme schoss sie in ihr empor und ließ sich auch nicht von dem Riegel bändigen, den Serena ihr im Geiste vorzuschieben versuchte. Die seltsame Gabe, die wie ein Fluch für sie war, gewährte ihr ein tieferes Bewusstsein und brachte ihr die Qualen von Rands rachsüchtigem Herzen noch näher.
Obwohl sie mit an seinem Schmerz trug, versuchte sie weiterhin, ihre Mutter zu beruhigen.
»Ich glaube nicht, dass er uns etwas antun wird. Er ist von Zorn erfüllt, das stimmt, und vielleicht auch gefährlich. Ein tödlicher Hass droht ihn zu verzehren … sein Zorn aber gilt einem anderen.«
»Bis jetzt noch«, merkte ihre Mutter mit grimmiger Miene an. »Aber wie lange?«
»Wir können nicht vor dem Ungewissen davonlaufen. Wir können unser Zuhause nicht aufgeben … «
Serena wurde in ihren Worten unterbrochen, als die Tür zur Hütte heftig aufflog und krachend gegen die Wand prallte. Erschrocken wirbelte Serena herum. Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, als sie das wilde Aufleuchten in Rands dunklen Augen sah.
»Ihr beide werdet schön hierbleiben«, dröhnte er, sodass seine Stimme durch die Hütte rollte gleich einem Donnergrollen, das sich an den Bergen bricht. Sein Zorn vereinnahmte den ganzen Raum mit gefährlichen Schwingungen, die Serena erfassten. In seiner geballten Hand hielt er ein schmutziges Stück Leinen. Er drückte so fest zu, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Wo ist er?«
Irgendwie gelang es Serena, ihre Stimme wiederzufinden. »Wo ist … wer?«
Er betrat die Hütte. Sein Mund bildete einen dünnen Strich, sein Blick bohrte sich in Serenas Augen. »Der Kelch, verflucht! Der goldene Kelch, der in dieses Tuch eingeschlagen war. Ich gebe euch jetzt die Gelegenheit, mir die Wahrheit zu sagen.«
Serena schluckte schwer, als er ihren Blick gefangen hielt und langsam näher kam.
»Eine letzte Chance«, warnte er in trügerisch ruhigem Ton. Dann schlug er ohne Vorwarnung mit der Faust auf den Tisch und machte damit jeden Anschein von Gefasstheit zunichte. »Also, verflucht. Wo, zum Teufel, ist er?«
7
Serenas Gesicht war aschfahl, als Rand in seinem Zorn auf sie zuhielt. Doch sie begegnete seinen Verdächtigungen mit erstaunlich fester Stimme.
»Ich habe keine Ahnung – wie oft muss ich Euch das noch sagen? Wenn meine Mutter oder ich etwas wüssten, hätten wir es Euch gesagt.«
Rand gab einen spöttischen Laut von sich. Er spürte das Flirren seiner Nasenflügel, seine Fäuste zitterten infolge der Macht seines Zorns. Serena zuckte zusammen, als er das schmutzige Leinentuch wegschleuderte und sie vor den Tisch drängte, sodass ihr keine Fluchtmöglichkeit mehr blieb. Blinzelnd schaute sie zu ihm auf, ließ sich aber nicht einschüchtern. Im Gegenteil, ein stummer Trotz geriet in ihre Haltung, und sie straffte die Schultern.
Doch ihr Widerstand ließ seinen Zorn umso heftiger aufflammen.
»Sag es mir, Serena. Was hast du mit dem Kelch gemacht? Er wurde nicht in dem Unwetter fortgespült, wie du mich glauben machen wolltest. Versuch nicht, es zu leugnen, denn ich hielt den Beweis in Händen.«
»Ich schwöre Euch, der Beutel war leer, als ich Euch auf dem Strand fand. Den Kelch, von dem Ihr sprecht, habe ich nie gesehen.«
Während sie sprach, näherte sich ihre Mutter ganz vorsichtig dem Tisch und streckte den Arm nach dem kleinen Schälmesser aus, das neben dem geschnittenen Gemüse lag. Rand blickte zwar unverwandt auf Serena, aber dann hob er eine Hand und zeigte mit warnendem Finger auf
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