Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
Sie blinzelte sie fort, und auf ihren bleichen Wangen zeichneten sich zwei feuchte Spuren ab.
»Berührt mich nicht«, wisperte sie im Tonfall der Verzweiflung. Kummer und Schmerz spiegelten sich in dem Ozeanblau ihrer Augen; qualvolle Empfindungen, die so herzzerreißend waren, dass Rand schon glaubte, den Kummer in seinem eigenen Herzen zu spüren. »Ich kann Eure Seelenqualen nicht mehr ertragen.«
»Meine Seelenqualen?« Rand schüttelte den Kopf, obwohl er wusste, dass sie recht hatte.
Meine Tochter lügt nicht! Sie kann nicht die Unwahrheit sagen!
Das hatte Serenas Mutter zumindest vorhin in der Hütte behauptet. Nun verstand Rand allmählich, was sie meinte.
»Meine Seelenqualen«, sprach er und ließ die Hand sinken. »Du weißt also, was ich empfinde?«
Serena nickte kaum merklich.
»Wie ist das möglich?« Es klang leicht spöttisch. »Niemand kann das wissen.«
Seine Behauptung schien sie wieder zur Vernunft zu bringen. Sie zog die Stirn kraus und schüttelte den Kopf. Noch fehlte ihrem Gesicht die gesunde Farbe, aber ihr Blick wurde wieder schärfer und schien sich aus einem geheimen Zauberbann zu lösen.
»Ich weiß, was Ihr fühlt, und habe die schrecklichen Gräueltaten gesehen, die nicht von Euch ablassen.« Als er dafür nur einen leisen Fluch übrig hatte, fuhr sie unbeirrt fort, offener und schonungsloser als zuvor, um ihn von ihren Worten zu überzeugen. »Ich weiß, dass Eure Frau Elspeth um Hilfe schrie und verzweifelt nach Euch rief, ehe der Bolzen eines Angreifers ihr Herz durchbohrte.«
»Genug!«
Rand wollte kein Wort mehr davon hören, mochte es nun der Wahrheit entsprechen oder nicht. Aber Serena stand wie unter einem Zwang und musste die schrecklichen Ereignisse jener Nacht allesamt zur Sprache bringen.
»Sie stürzte die Treppe im Wohnturm hinunter, sterbend, Euch verfluchend … mit Eurem kleinen Sohn im Arm.« Sie hielt inne, senkte ihren Blick in seine Augen und sah darin viel zu viel. »Ich weiß, dass Ihr nur für sie überlebt habt. Daher seid Ihr hier, um Rache zu üben. Euch steht der Sinn nach Mord, und ich weiß, dass sich Euch auf Eurem Rachefeldzug nichts und niemand in den Weg stellen darf.«
»Beim Heiligen Kreuz«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du warst nicht dort. Wie solltest du auch. Aber woher weißt du dann … «
»Ich habe Euch berührt. Da sah ich, was geschah. Ich habe all das gefühlt, ebenso wie Ihr.« Sie schaute zu ihm auf. Traurigkeit lag in ihrem Blick, den sie ihm unter langen, noch tränenfeuchten Wimpern zuwarf. »Ich fühle es immer noch, genau wie Ihr in diesem Augenblick, Rand.«
Es fiel ihm schwer, ihrem offenen Bekenntnis Glauben zu schenken. Er verbat sich jeden weiteren Gedanken über das Schicksal von Elspeth und Todd, wollte nicht erneut die grausamen Stunden durchleben, die sich jedes Mal, wenn er die Augen schloss, in quälender Langsamkeit aus dem Schlund der Erinnerung erhoben.
Es widerstrebte ihm, auch nur annähernd das zugeben zu müssen, was er seit diesem furchtbaren Vorfall fühlte. Schon gar nicht in Gegenwart dieser Frau, die sich als seine Feindin erweisen könnte.
»Wie ist das möglich?«, fragte er nach einer Pause. »Was versetzt dich in die Lage … «
»Es ist die Ahnung. Sie überkommt mich, wenn ich andere Menschen berühre – sofort erhasche ich einen Blick in das Herz meines Gegenübers.«
Die blassen, zierlichen Hände hatte sie nun seitlich am Körper zu kleinen Fäusten geballt. Ihre Handschuhe hatte sie in ihrem Schrecken abgestreift und in der Hütte zurückgelassen. Nun begriff Rand, wie wichtig diese Handschuhe für Serena waren.
»Eine Berührung bereitet dir Schmerzen, daher schützt du deine Hände mit einer Lederschicht.«
»Ja. Aber manchmal sind selbst die Handschuhe machtlos gegen die Ahnung.«
»Wie vorhin in der Hütte? Du hast sie erst von dir geschleudert, nachdem du mich berührt hattest«, erinnerte sich Rand. »Du konntest also lesen, was in mir vorging, selbst durch die Schicht aus Leder hindurch?«
Sie nickte. »Wie ich schon sagte, es gibt Augenblicke, in denen der machtvollen Ahnung nichts standhält.«
»Wie lange ergeht es dir schon so?«
»Ihr meint, wie lange ich darunter leide?« Sie stieß leise die Luft aus und seufzte. »Ich kenne es gar nicht anders. Ich kann es nicht aufhalten.«
»Verfügt deine Mutter ebenfalls über diese Fähigkeit?«
»Nein. Sie vermag nichts durch bloße Berührung zu fühlen. Aber mein Bruder und meine Schwester
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