Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
hatten die Gabe. Sie verloren ihr Leben wegen der Ahnung.«
»Diese … «, Rand zögerte, die Fähigkeit als Gabe zu bezeichnen, »… diese Eigenschaft, von der du sprichst, willst du behaupten, dass sie dich töten kann?«
Serenas Gesichtsausdruck, immer noch von Schmerz überschattet, wirkte nun entspannter als zuvor. »Wenn die Erfahrungen zu stark und zu böse sind, ja. Dann kann die Ahnung auch tödlich sein. Aber ebenso tödlich sind die Leute, die nicht begreifen. Sie fürchten sich. Sie verfolgen andere. Sie töten.«
Er schwieg, und sie schaute mit unbewegter Miene zu ihm auf.
»Was ist mit Euch, Randwulf of Greycliff?«
Dass sie den Namen seines Besitztums kannte, obwohl er ihn ihr bewusst vorenthalten hatte, überraschte Rand nun auch nicht mehr. Gleichwohl erfüllte es ihn mit Unbehagen, dass diese Frau in der Lage war, seine Gedanken – seinen tiefsten Schmerz – so genau zu lesen. Wie viel mochte sie sehen? Wie tief war ihr Blick in jenen Momenten vorgedrungen, in denen sie ihn in der Hütte berührt hatte? Mehr noch, konnte sie diese Fähigkeit nach Belieben einsetzen, wenn es ihrer Absicht dienlich war?
Eine solche Fähigkeit könnte ihm gefährlich werden, sollte Serena bereit sein – oder sich dazu überreden lassen – , die Gabe gegen ihn zu verwenden. Rands Feinde schreckten nicht vor Folter zurück, und er hatte miterlebt, wie diese frevelhaften Maßnahmen selbst gestandene Krieger in schwache Sklaven verwandelt hatten.
»Was ist mit mir?«, sprach er seine Gedanken halblaut aus, während er immer noch versuchte, das Risiko abzuwägen, das Serena für sein Vorhaben darstellen konnte.
»Ja«, sagte sie. »Ich habe heute Eure Geheimnisse gesehen, und jetzt kennt Ihr meins. Die Frage ist nun, was Ihr zu tun gedenkt? Werdet Ihr mich an jene Männer außerhalb dieses Waldes verraten, deren furchtsamer Geist und Ahnungslosigkeit mich zerstören könnten … oder muss ich mich eher vor Euch fürchten?«
»Ich kann nicht so tun, als würde mir all das gefallen, was ich heute erfahren habe – bei Gott, ich kann es noch gar nicht glauben! Aber du hast mir keinen Grund gegeben, dir ein Leid zuzufügen, Serena.«
Sie reckte leicht das Kinn empor, eine trotzige Bewegung, als wolle sie den Wahrheitsgehalt seiner Worte prüfen. »Dann glaubt Ihr mir also, dass ich nichts von dem Kelch weiß, den Ihr vermeintlich bei Euch trugt, als ich Euch fand?«
»Ich glaube dir«, sagte er aufrichtig und fragte sich allmählich, ob er den Schatz nicht doch irgendwo im Meer verloren hatte.
Es mochte stimmen, dass der Lederbeutel leer gewesen war, wie sie behauptete. Das Leinentuch, in das der Kelch eingeschlagen war, könnte auch einfach an Land gespült worden sein. Womöglich hatte es ein streunendes Tier oder ein Raubvogel in den Wald getragen. Aber Serena besaß den fehlenden Kelch nicht, und sie hatte ihn auch nicht gesehen, als sie zum Strand gekommen war. Das glaubte er nun sicher zu wissen. Blieb nur zu hoffen, dass die See den Kelch wieder hergab und mit der nächsten Flut an Land spülte.
Bis dahin – oder bis er sich eine andere Waffe überlegt hatte, die er gegen Silas de Mortaine einsetzen konnte – würde sich Rand in Geduld üben müssen. Doch in letzter Zeit hatte er sich nicht gerade durch ein großes Maß an Langmut ausgezeichnet.
»Dann ist es gut. Ich bin froh, dass Ihr mir vertraut«, sagte Serena und drängte sich mit ihrer melodiösen Stimme in seine grüblerischen Gedanken.
»Ja, das tue ich«, sprach er, »… fürs Erste.«
Sie nickte kaum merklich und wandte sich dem Pfad zu.
»Serena. Wohin willst du?«
Sie drehte sich halb zu ihm um, und ihre Blicke begegneten einander. »Zurück zur Hütte, um meiner Mutter beim Aufräumen zu helfen, da Ihr unsere Gefäße zerschlagen habt.«
Rand hielt sie nicht auf und rechtfertigte sich auch in keiner Weise, als sie sich endgültig von ihm abwandte und dem schmalen Weg durch den Wald folgte.
Es gelang Serena, ruhig und gefasst einen Fuß vor den anderen zu setzen, was sie für ein Wunder hielt, denn im Innern litt sie unter den Nachwirkungen der grausigen Bilder – genau wie Rand hatte sie all die Schrecken jener Nacht des Überfalls hautnah miterlebt. Die Vorstellung fiel ihr schwer, dass er überhaupt in der Lage war, so viel Schmerz mit sich herumzutragen. Sie selbst hatte die furchtbare Nacht ja nur für einen Moment durchlebt, und dennoch schienen sich die Erinnerungen mit Klauen aus Kummer und Zorn in ihr Herz zu
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