Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
den düsteren Erinnerungen an den Überfall auf seine Burg gerissen. Elspeths von Angst entstelltes Gesicht verblasste erneut, während ihre schrillen Schreie und die anklagenden Worte gegen ihn verklangen.
Die Fäuste indes, die gegen seine Brust schlugen, entsprangen nicht seiner Einbildung. Es waren wütende Schläge, die Serena austeilte. Sie weinte leise, und Kummer legte sich wie ein Schatten auf ihre ebenmäßigen Züge. Schließlich erschlafften ihre behandschuhten Hände, als könne sie die Arme nicht mehr heben. Ihr Gefühlsausbruch schien sie aller Kraft beraubt zu haben.
»Serena«, rief ihre Mutter durch den Raum. »Hör auf, Kind! Du darfst ihn nicht berühren. Du weißt doch, was du dir damit zufügst … «
Doch es war zu spät. Als Rand in ein Antlitz voller Klarsicht und Erkenntnis blickte, stockte ihm der Atem. Er sah Tränen in ihren Augen schwimmen: Ausdruck eines Kummers, eines tief empfundenen Schmerzes, den er so gut kannte – und auf unerklärliche Weise genauso stark empfand wie sie.
»Sie sind tot«, murmelte sie. »Bei allen Heiligen, sie haben sie beide erschlagen.«
»Was redest du da?«, bedrängte Rand sie. Doch sein Zorn über den vermissten Kelch schwand bei diesen sonderbaren Worten.
»Eure Frau … Euer Sohn, der gerade erst sechs war … Sie sind beide fort.«
Ein kalter Schauer durchrieselte Rand. »Wie kannst du das wissen?«, stieß er hervor.
»Feuer«, wisperte sie. »Überall Rauch. Ich kann sie nicht sehen … aber – o nein!« Mit zitternden Händen hielt sie sich die Ohren zu. Ihr Blick war unheimlich in die Ferne gerichtet. »Beide schreien. Schreien und weinen und dann … nein.«
»Hör auf damit«, befahl er ihr verwirrt und benommen. »Was für ein Spiel treibst du da mit mir?«
Aber sie wollte oder konnte ihn nicht hören. »Es ist jetzt viel zu still«, sagte sie, und grenzenlose Furcht beherrschte ihr angespanntes Wispern. »Ich kann sie nicht mehr hören … nicht mehr sehen … «
»Genug.« Rand packte Serena grob an den Schultern, über alle Maßen erschrocken über das, was er da hörte – es waren Worte, die aus seiner eigenen Erinnerung zu stammen schienen, aus seinem eigenen Herzen. »Verflucht, Frau! Woher weißt du das? Bist du etwa dort gewesen?« Er schüttelte sie, versuchte ihren Worten einen Sinn zu geben, wollte die Wahrheit ihrer unglaublichen Darstellung des Überfalls abschütteln. »Wie kannst du wissen, was sich in jener Nacht ereignete?«
»Lasst sie los, ich bitte Euch!« Es war die Stimme ihrer Mutter, die ihm nun antwortete. Händeringend eilte sie zu ihm und bat ihn flehentlich, ihre Tochter loszulassen. »Sie kann Euch nicht hören – sie ist zu stark von der Ahnung durchdrungen. Gebt sie frei, bitte. Ihr macht es nur noch schlimmer, wenn Ihr sie berührt.«
»Es ist nichts mehr da«, murmelte Serena. Rand hatte den Griff nur leicht gelockert, aber sie entwand sich ihm, immer noch in den unergründlichen Nebeln treibend. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und doch schien sie nichts im Raum zu sehen, dessen war sich Rand sicher. Sie sah ihm geradewegs in die Augen – aber in Wahrheit blickte sie durch ihn hindurch, und er fühlte, wie ihr starrer Blick ihn wie die Klinge eines Zauberers durchbohrte und ihm seine Geheimnisse entriss. »Sie sind fort, konnte sie nicht retten. Ist nichts mehr da, nur noch Asche … nur noch Schmerz … «
»Bei Gott«, fluchte Rand ungläubig, obwohl er nicht leugnen konnte, was er da hörte. »Ihr beide seid vom Teufel besessen, nicht wahr? Das ist Irrsinn … «
»Kein Irrsinn, sondern eine besondere Gabe«, betonte ihre Mutter. »Ihr könnt das nicht verstehen. Niemand kann das.«
»Hexenkunst«, stieß er hervor und hielt sich an die einzige Erklärung, die einen Sinn für ihn ergab.
Die Frau schüttelte energisch den Kopf, sodass ihr das Haar ins Gesicht fiel. »Nein!«
»Was kann es sonst sein?«, entgegnete Rand.
Zu genau entsann er sich einer anderen Gabe, deren Zeuge er geworden war: der dunklen Magie der Gestaltwandler, die in Silas de Mortaines Dienste getreten waren. Eben diese Untiere hatten seine Frau und seinen Sohn in all dem Qualm und der Zerstörung erschlagen, die Serena soeben beschrieben hatte. Die Vision, wenn es denn eine war, hatte sie noch fest im Griff. Tränen liefen ihr über die Wangen, doch sie hatte die Augen geschlossen, als wolle sie die unliebsamen Bilder aus ihrem Geist verbannen. Mühsam rang sie nach Luft, murmelte unverständliche Worte – flehte
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