Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
ins Auge und drohte ihm mit ihren kleinen, zu Fäusten geballten Händen. »Sie kann gar nicht die Unwahrheit sagen! Wenn meine Tochter Euch sagt, dass sie nicht weiß, wo Euer Kelch ist, dann spricht sie die Wahrheit.«
Rand vermochte seine Wut kaum zurückzuhalten, die ungezügelt in ihm tobte. »Haltet Ihr mich für einen Narren, Frau? Sie war es doch, die mich unten am Strand fand. Ich sah ihr Gesicht, als ich erwachte – unmittelbar, bevor sie mir jegliche Hilfe verweigerte und mich bei steigender Flut hilflos zurückließ.«
»Nur, weil wir wussten, dass Ihr eine böse Gesinnung habt!«, rief Calandra außer sich. »Wir wussten, dass Ihr uns nichts als Gewalt in unser Haus bringen würdet!«
Rand hatte für die wüsten Anschuldigungen der älteren Frau nur einen kurzen Blick übrig. Er stand nun vor dem Regal mit den Trinkgefäßen, und der Zorn wühlte ihn auf wie ein Sturm die See. Zu viel wertvolle Zeit hatte er bereits vergeudet – seit er von Glastonbury aufgebrochen war, waren schon mehr als zwei Wochen vergangen. Und nun saß er seit Tagen in diesem entlegenen Waldstück fest, da er sich von seinen Verletzungen erholen musste. De Mortaine und dessen Helfershelfer waren dem Letzten der vier Kelchsteine gewiss näher gekommen, während er sich wie ein Blinder durch eine fremde Umgebung tastete und nach etwas suchte, das er womöglich niemals finden würde.
Aber er hatte das kostbare Gefäß nicht im Meer verloren. Nie hätte er es losgelassen. Er wusste noch genau, dass er den Beutel umklammert und sich, um Gewicht loszuwerden, lediglich seines Schwerts entledigt hatte. Er hatte den Beutel noch bei sich gehabt, als er an Land gespült wurde, und er war nicht leer gewesen, wie Serena ihn wiederholt hatte glauben machen wollen. Das Leinentuch, das er im Wald gefunden hatte, war ihm Beweis genug.
Nein. Wenn der Schatz wirklich verloren war, dann musste Rand hinnehmen, dass auch der Kampf verloren war, ehe er richtig begonnen hatte.
Doch diesen Gedanken wollte er nicht zulassen.
Elspeth und Todd sind nicht umsonst gestorben. Das hatte er bei seiner Seele geschworen. Er würde sein Versprechen nicht brechen, ohne gekämpft zu haben … bis zum letzten Atemzug, wenn es sein musste. Seine zerbrechliche Frau und sein unschuldiges Kind waren von ihm abhängig gewesen, doch er hatte ihre Hoffnungen zuschanden gemacht.
Bei allen Heiligen, im Tode würde er sie nicht enttäuschen.
Der Schwur hallte in seiner Erinnerung nach, lauter als ein Donnerschlag. Lauter sogar als das plötzliche Geräusch von zerspringenden irdenen Töpfen und Schalen, die zu Boden fielen, als er die Gefäße mit einer wütenden Bewegung vom Regal fegte. Wie von Ferne hörte er die Frauen schreien.
»Haltet ein!«, rief eine von ihnen. »Warum müsst Ihr unser Haus zerstören? Wir haben Euch nichts getan! Was wollt Ihr von uns?«
Er hörte die Angst und den Schrecken aus dieser Stimme heraus, aber in seinem Kopf – in seinem Herzen – nahm er doch nur den Schmerz einer anderen Frau wahr.
Elspeth.
Es war ihre Todesangst, die sich in seine Erinnerung gebohrt hatte. Tief saß ihre Furcht in seiner Seele, glühend wie ein Brandeisen, wie eine schwärende Wunde. Er sah, wie dichter Qualm die gewundene Treppe seines Wohnturms verdunkelte. Ruß legte sich in seine Kehle, fliegende Ascheflocken raubten ihm die Sicht. Sein Schwert war kalter Stahl in seinen Händen. Er hatte keine Zeit gehabt, sich anzukleiden; die Plünderer waren im Schutze der Nacht über die Burg hergefallen, hatten Feuer im Wohnturm und in den angrenzenden Gebäuden gelegt. Der Auftrag der Schurken war eindeutig gewesen: Sie sollten das Siegel finden und niemanden auf Greycliff Castle am Leben lassen.
Nur die Beinlinge am Leib und das Schwert in der Hand, war Rand die Treppe hinuntergestürmt, um sich den Gestaltwandlern entgegenzustellen.
Elspeth hatte ihn noch aufhalten wollen und ihn angefleht, sie nicht zurückzulassen. Sie packte ihn beim Arm, schlang die Arme um seinen Hals, wild schluchzend und außer sich vor Angst, noch leicht benommen von den Kräutern, die sie früher am Tag eingenommen hatte. Mit einem Fluch auf den Lippen hatte er sie abgeschüttelt – es sollten die letzten Worte sein, die sie miteinander sprachen. Sie hatte seine Brust mit den Fäusten bearbeitet, und selbst jetzt noch glaubte er, den wilden Rhythmus auf seiner bloßen Haut zu spüren.
Rand hörte, wie die Tonscherben unter seinen Schritten knackten, und wurde augenblicklich aus
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