Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
konnte keinen klaren Gedanken fassen, bis er sich endlich wieder von der Hütte entfernte.
Sie genoss seine Abwesenheit, mochte sie auch nur kurz währen. Mit einem heimlichen Blick aus dem Fenster vergewisserte sie sich, dass er den Garten verlassen hatte. Wahrscheinlich war er zum Strand hinuntergegangen, um erneut nach dem verlorenen Kelch zu suchen. Blieb für sie nur zu hoffen, dass ihn die Suche für den Rest des Tages beschäftigte. Er übte eine eigenartige Wirkung auf sie aus, hinter der mehr stecken musste als die Ahnung allein.
Randwulf of Greycliff war ein Krieger und versinnbildlichte all das, wovor ihre Mutter sie immer gewarnt hatte. Er war eine gequälte Seele und befand sich womöglich jenseits der Erlösung. Dennoch wisperte ihr die Ahnung mit verlockenden Worten zu, genauer hinzuschauen und hinter all den Schmerz zu blicken, um den ganzen Menschen zu sehen. Aber das traute sich Serena nicht, nicht nach all dem, was sie am Morgen hatte durchleiden müssen. Der Widerhall dieser Erfahrung fuhr ihr jetzt noch durch Mark und Bein – sie glaubte nicht, dass sie noch weitere Geheimnisse dieser Art verkraften konnte.
In drückendem Schweigen arbeitete sie weiter und sorgte gemeinsam mit ihrer Mutter wieder für Ordnung. Auch die letzte Tonscherbe wanderte in einen Eimer, der bereits von zerbrochenem Geschirr überquoll. Serena nahm den Eimer und trug ihn zur Tür. »Ich denke, ich werde mir ein wenig die Beine vertreten.«
Calandra hielt in ihrer Arbeit inne und schaute auf. »Geh nicht zu weit, Kind.«
»Natürlich nicht, Mutter.« Serena zögerte einen Augenblick, die Hand bereits um den Riegel gelegt. »Das tue ich nie«, fügte sie leise hinzu und schloss die Tür dann hinter sich.
Tief im Wald, in einem entlegenen Winkel, der im Schatten hoher Kiefern und Eschen lag, standen die Überreste einer alten Kapelle. Sie war zu keiner Zeit ein prächtiger Bau gewesen, sondern aus dem Holz des Waldes und glatten, mit Salz verkrusteten Steinen errichtet worden, die Serenas Vorfahren von der Küste geholt hatten, damals, als sie den Wald zu ihrem Zuhause erwählt hatten. Hier hatten sie ihre Gottesdienste gefeiert, geheiratet, den Kindern Namen gegeben und waren schließlich nicht weit von der Kapelle bestattet worden.
Keine Grabsteine markierten die verstreut liegenden Gräber, aber in einem alten, ledergebundenen Buch, das in der verlassenen Kapelle versteckt war, waren die Namen der Ahnen fein säuberlich eingetragen. Dieser heilige Ort, zusammen mit dem alten Buch, war Serenas einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit und ihren Verwandten. Ganze Generationen füllten die Bogen des rissigen, vergilbten Pergaments. Nicht alle Namen konnte sich Serena merken, zumal einige seltsam und fremdländisch klangen, andere wiederum vertraut. Aber sämtliche nahm sie mit ehrfürchtigen Blicken in sich auf.
Von Zeit zu Zeit saß sie in dem halb verfallenen Heiligtum, blätterte versonnen in dem Sterberegister und fragte sich, woher all diese Menschen gekommen waren. Wie mochten sie einander begegnet sein? Warum hatten einige von ihnen den Wald verlassen, und wohin waren sie dann gegangen? Und warum waren andere geblieben, über Jahrzehnte, so wie ihre Mutter? Wie Serena selbst.
An anderen Tagen genoss sie einfach nur die Einsamkeit des Ortes, die heilige Abgeschiedenheit, die von der Sonne gewärmten Steine und das alte braune Holz. Dort, wo einst das strohbedeckte Dach des kleinen Kirchenschiffs gewesen war, sah man nun nichts als Baumwipfel und Himmel.
Serena weilte schon seit Stunden an dieser alten Stätte. Sie saß auf dem verwitterten, von Efeuranken überzogenen Altarstein, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, weinte bitterlich und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Ihr Körper wurde von wildem Schluchzen geschüttelt.
Sie trauerte. Allerdings nicht um eine der Seelen, die einst durch diese Wälder gestreift waren. Sie weinte vielmehr um Randwulf of Greycliff. Um seine Frau und sein Kind, die beide gewaltsam ums Leben gekommen waren. Seine tiefe Trauer war in ihr, ausgelöst durch die Gabe der Ahnung.
Doch diese Bürde wollte sie nicht tragen. Sie glaubte nicht, dass sie dies länger erdulden könnte, und wusste nicht, wie Rand damit fertigwurde. Sein Zorn gab ihm Halt, gewiss. Das spürte sie auch in der Ahnung, die sie kalt durchrieselte. Rands Verlangen nach Vergeltung war vermutlich alles, was ihn noch anspornte, wenn ihn Kummer und Gram zu überwältigen drohten.
Serena fröstelte,
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