Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
jedem geschmeidigen Schritt zwischen den Falten ihres zugehaltenen Umhangs sichtbar wurden. Der Nebel hüllte sie in hauchdünne weiße Schwaden, als sie auf Rand zuging, zu unschuldig, um zu ahnen, dass sie ihn viel eher zu fürchten hatte.
Rand atmete tief ein, und sogleich waren seine Sinne von ihrem Duft erfüllt: ein reiner, warmer, weiblicher Duft. Ihr Antlitz leuchtete, und ihr feuchtes dunkles Haar schillerte blauschwarz, wo das Mondlicht ihren Schopf liebkoste. Nie hatte er eine solche Erscheinung gesehen, einen lieblichen Engel, von verzauberten Wassern gesalbt.
Bei allen Heiligen, er blickte auf eine mächtige Sirene, wusste sie doch ein so tiefes Verlangen in ihm auszulösen, obwohl sich sein Herz nach einer anderen sehnte.
Sich nach einer anderen sehnen musste …
Schließlich schien sie die Gefahr erkannt zu haben, die in seinem Blick und seinem beharrlichen Schweigen lauerte, denn sie blieb stehen und trat dann einen kleinen Schritt zurück. Doch ihm kam der Abstand immer noch viel zu gering vor; gerade einmal eine Armeslänge trennte ihn von ihr. Sie hatte den Mund leicht geöffnet, und ihr warmer Atem verfing sich in den Schleiern der feuchten Seeluft. Er sah, wie die Ader an ihrem Hals pochte. Ihre Brust hob und senkte sich rasch unter der kleinen Hand, mit der sie den Umhang zusammenhielt.
Sie schluckte, und er konnte ihre Unsicherheit förmlich spüren. »Ich gehe besser zurück … «
Mit drei kleinen Schritten erreichte sie die Stelle, wo er ihr den Weg zurück in den Wald versperrte. Er hätte ihr Platz machen müssen … sie hätte nicht unmittelbar neben ihm stehen bleiben dürfen.
Rand drehte ihr den Kopf zu, von schier unstillbarem Verlangen durchpulst. Die mahnende Stimme seines Ehrgefühls zählte in diesem Augenblick nicht. Mochte es falsch sein oder nicht, er streckte die Hand nach ihr aus. Eine kühle, glänzende Haarlocke drehte sich um seinen Finger.
Hörbar sog Serena die Luft ein. Sie verspannte sich neben ihm, entzog sich ihm aber nicht. Rand streichelte über die Locke aus feuchter Seide und wickelte sie versonnen um seine Hand. Wassertropfen benetzten ihre langen Wimpern, die ihren unverstellten Blick umschmeichelten. Farbe lag nun auf ihren Wangen, ein zartes Rot überlagerte das nymphenartige Weiß ihrer Haut. Ihre Lippen waren so rot wie Beeren und schimmerten feucht, als sich Serena unsicher mit der Zunge über die Lippen fuhr.
Rands Leib verspannte sich vor Verlangen.
Er wollte sie küssen.
Dieser Gedanke traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Ein ungebetener, besitzergreifender Drang überfiel ihn. Er bemerkte durchaus, wie er seine Hand ein wenig fester in ihrem seidigen schwarzen Haar vergrub. Seine Selbstbeherrschung war nicht mehr als ein dünner Faden. Das Atmen fiel ihm schwer, verbotene Gedanken drängten Vernunft und Scham in den Hintergrund. Mit einer schnellen Drehung wandte er sich ihr zu und strich ihr mit der anderen Hand über die vollkommenen Konturen ihres vom Mondlicht verwöhnten Antlitzes.
Gott steh mir bei, dachte er, als seine Finger ihre Wange berührten.
Es war falsch, sie zu begehren, widersinnig, da seine Gemahlin erst wenige Monate in ihrem kalten Grab lag.
Elspeth hatte mehr Achtung verdient.
Serena hielt den Atem an und wich mit geweiteten Augen vor ihm zurück. Kaum merklich löste sie sich von ihm, und doch entging ihm die kleine Bewegung nicht. Sogleich gab er sie frei.
Er begriff, dass seine Berührung nur unwillkommen und schmerzvoll sein konnte. Es war die Furcht vor ihrer machtvollen Gabe, die sie zu diesem Zeitpunkt vor ihm schützte, da er es an jeglichem Ehrgefühl mangeln ließ. Sie legte die Stirn in kleine Falten, und Verwirrung blitzte in ihren Augen auf, ehe sie die langen Wimpern senkte.
Endlich, beinahe zu spät, fand Rand seine Stimme wieder. Doch er brachte nur ein einziges Wort hervor.
»Geh.«
Dann wandte er sich von ihr ab, solange er die Kraft für diese Willensanstrengung noch aufbringen konnte. Leise Schritte waren auf dem grünen Waldboden zu hören. Rand wollte sich nicht umdrehen, um ihr nachzublicken; er traute sich selbst nicht. Serenas Schritte wirkten zögerlich, als sie sich entfernte. Doch schließlich lief sie, und im nächsten Augenblick war schon nichts mehr von ihr zu hören. Nur das Rauschen des Sturzbachs erfüllte die Nacht.
Rand war wieder allein.
Er redete sich ein, erleichtert zu sein.
11
Zwei Tage waren seit der nächtlichen Begegnung am Weiher des Sturzbachs verstrichen.
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