Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
hatte.
»Ihr habt so viel durchmachen müssen, Rand. Da finde ich es nur natürlich, wenn man um die Angehörigen trauert.«
Er stieß einen höhnischen Laut aus. »Für Trauer wird Zeit sein, wenn ich Vergeltung geübt habe.«
Die Art, wie er dies vorbrachte, und der Nachdruck in seiner Stimme machten Serena nachdenklich. »Ihr habt Euch keine Zeit zum Trauern genommen?«
»Wem sollte das nützen?«, entgegnete er schroff. »Es macht die Tat nicht ungeschehen. Und bringt sie mir nicht zurück.«
Serena schloss die Augen und ließ dieses Bekenntnis auf sich wirken. Er gestattete sich also nicht, angemessen um Frau und Kind zu trauern, bis seine Rache erfüllt war. »Nein, Trauer bringt sie Euch nicht zurück«, räumte sie ein. »Aber Ihr seid noch hier, und niemand sollte so viel Schmerz mit sich herumtragen.«
Darauf erwiderte er nichts, sah sie nicht einmal mehr an. Stattdessen griff er nach einem Verbandsstreifen und begann, den Stoff um seinen Arm zu wickeln.
Serena saß neben ihm und sah ihm schweigend zu. Allein der Gedanke an die Einzelheiten des Überfalls reichte aus, um eine Woge des Kummers zu spüren. Lebhaft entsann sie sich ihres eigenen Schmerzes, der an jenem Tag von Rand auf sie übergegangen war, als er von ihrer Ahnung und sie von seinem Leid erfuhr. In der Abgeschiedenheit der Kapelle hatte sie geweint – und auch danach auf ihrer Bettstatt. So lange, bis sie sich vollkommen ausgelaugt und erschöpft gefühlt hatte.
Den Verlust, den Rand erlitten hatte, empfand sie zugleich als den ihren. Es erschien ihr unmöglich, dass er dieses Maß an Kummer mit stoischem Schweigen ertrug.
Wie unerbittlich doch die Ehre eines Kämpfers war, dass sie ihn so streng gegen sich selbst machte. So weit entfernt von Gefühlen – vom Leben.
Serena wollte ihm Trost zusprechen, doch sie wusste, dass er ihr Mitgefühl nicht brauchte. Wenn er nicht trauern wollte, würde er auch kein Mitgefühl annehmen. Er war ein Mann mit einem harten Herzen; er hatte sich selbst zu einem Einzelgänger gemacht. Er brauchte niemanden – oder hatte sich das zumindest eingeredet.
Doch sie litt immer noch mit ihm, trauerte um seine Familie und das Zuhause, das er verloren hatte. Wie eigenartig, vor wenigen Tagen hatte er leblos am Strand gelegen, eine verlorene Seele, die das Meer ausgespien hatte, und nun kannte Serena seinen tiefsten Schmerz. Inzwischen sah sie etwas anderes in ihm … nur was war das?
Ungewollt hatte die Gabe der Ahnung ein unsichtbares Band zwischen ihnen geschmiedet, das sich nicht mehr zertrennen ließ. Ganz gleich, wie lange Rand noch blieb, ehe ihn seine Rache aus dem Wald führte, ganz gleich, wie weit sein Ansinnen ihn bringen mochte, Serena würde für den Rest ihres Lebens etwas von ihm in sich tragen. Und sollte ihn seine Suche das Leben kosten, so war sie doch fest davon überzeugt, dass sie das spüren und um ihn trauern würde.
»Lasst mich das machen«, sagte sie und rückte näher zu ihm heran, da sie nicht mehr mit ansehen konnte, wie er sich mit dem Verbandsstreifen abmühte.
Er sah kurz auf ihre behandschuhten Hände und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Ich komme zurecht. Ich weiß, dass dir die Berührung Schmerzen bereitet.«
»Das wird schon irgendwie zu ertragen sein«, beharrte sie und griff nach dem Leinen.
»Mir wäre es lieber, du würdest es lassen.«
Serena ging nicht weiter auf seine Worte ein und begann, den Verband wieder abzunehmen. »Ihr habt ihn zu locker gebunden. Seht Ihr? Das wird nicht halten.«
»Er wird halten.«
»Dafür braucht man zwei Hände. Lasst Euch doch helfen … «
»Beim Heiligen Kreuz, Serena!« Mit strenger Stimme entriss er ihr den Verband. »Ich will deine Hilfe nicht. Begreifst du denn nicht?«
Sie zuckte zusammen und war so benommen, als hätte er ihr tatsächlich einen Schlag versetzt. Rand sah sie eine ganze Weile an, mit verkniffenem Mund. In seinen braunen Augen funkelte Zorn.
»Ich will deine Hilfe nicht«, wiederholte er grollend. »Und ich kann auch deine Fragen oder deine Besorgnis nicht gebrauchen. Geh. Lass mich allein. Das ist alles, was ich von dir verlange.«
Serena schluckte schwer, spürte sie doch, wie ihr der plötzliche Schmerz den Hals zuschnürte. Heiße Tränen brannten ihr in den Augen, doch sie hielt sie gerade noch zurück.
»Es tut mir leid«, wisperte sie mit belegter Stimme. »Vergebt mir.«
Um sich nicht weiter vor ihm zu erniedrigen, wirbelte sie herum und floh in die Hütte.
12
Das kalte
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