Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
zwölf Jahren gewesen – kaum dem kleinen Kinderhemd entwachsen und unberührt von Sorgen und Nöten. Noch jetzt entsann sie sich genau dieser Tage voller Unbekümmertheit, als sie jauchzend durch den Wald gehüpft oder über den Strand getollt war, sich Tagträumen hingegeben und die kindliche Vorstellungskraft unter dem weiten Himmelszelt ausgelebt hatte. Eine ganze Welt getrennt von ihr hatte Randwulf of Greycliff damals sein Herz einer anderen Frau versprochen und Pläne für die Zukunft gemacht, die von großem Unheil überschattet wurden.
Wie unterschiedlich ihre Lebenswege verlaufen waren. Wie sehr sie sich auch jetzt noch unterschieden. Serena befürchtete, dass Rand nach wie vor düstere Pläne für seine Zukunft schmiedete – ging er doch dem Tag der Rache entgegen, der ihn das Leben kosten konnte.
»Ich liebe sie«, sagte er mit Nachdruck in der Stimme. »Ich liebte sie wie keine andere zuvor.«
Serena sah ihn wieder an und bemerkte die wilde Entschlossenheit, die seine Züge beherrschte, als müsse er sie von seinen Gefühlen für seine verstorbene Frau überzeugen. Sie glaubte ihm, auch wenn sie sich wunderte, dass es überhaupt einer Frau gelungen war, sein verhärtetes Herz zu erobern. »Meine Mutter sagt, es sei selten, dass ein Mann aus Liebe heiratet. Ihr konntet Euch in Eurer Verbindung wahrlich glücklich schätzen.«
»Ja, das mag sein«, sprach er, einen unwirschen Laut ausstoßend. »Aber – was tut es noch zur Sache?«
Er legte den goldenen Anhänger neben sich auf den Baumstamm, und seine Gedanken schienen mit seinem Blick in die Ferne zu schweifen. Serena konnte nur mutmaßen, wohin ihn seine Erinnerungen jetzt trugen. Als sie den gehetzten Ausdruck in seinen Augen wahrnahm, fragte sie sich unweigerlich, wie oft er in seinen Gedanken zu jener Nacht des Überfalls zurückgekehrt sein mochte.
»Rand«, sprach sie schließlich. »In der Nacht am Weiher … da wollte ich Euch fragen … «
Er brauchte einen Moment, um seine Versunkenheit abzuschütteln, und als er dann sprach, lag eine bedrohliche Ruhe in seiner Stimme. »Was wolltest du mich fragen?«
»Nun, da ist etwas, das mich beschäftigt, und ich war mir nicht sicher, wie ich Euch danach fragen sollte«, sagte sie, auf Vorsicht bedacht, da sie ein schwieriges Thema anschnitt. Und er ließ nicht erkennen, dass er überhaupt auf Fragen eingestellt war. Seine Miene hatte sich weiter verdüstert, reglos verharrte er auf dem Baumstamm. Serena sprach weiter, bevor der Mut sie verließ. »Als Ihr durch den Wald lieft, kamt Ihr mir so … aufgebracht vor. Ihr … habt ihren Namen gerufen. Und als Ihr zu der Lichtung am Wasserfall kamt, wirktet Ihr geradezu aufgelöst, als wäret Ihr in einem furchtbaren Albtraum gefangen.«
Die nachfolgende Stille, in der sie auf eine Erklärung für sein seltsames Verhalten in jener Nacht wartete, war schier unerträglich. Aus seinem Blick glaubte sie zu lesen, dass er davon ausging, sie werde ihn auf die beunruhigende Begegnung am Weiher ansprechen, auf die verbotene Liebkosung, die ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.
Rand fixierte sie mit einem harten Blick und stieß einen derben Fluch aus, ehe er sagte: »Ich muss dich erschreckt haben. Dafür möchte ich mich entschuldigen.«
Serena war nicht gewillt, ihn mit seiner gleichgültigen Art davonkommen zu lassen. »Ich war aber nicht erschrocken. Nur in Sorge. Wegen Euch.«
»Das ist nicht nötig. Wie du leicht sehen kannst, habe ich mich erholt.«
»Aber was war geschehen? Warum habt Ihr nach Elspeth gerufen?«
Er gab einen belustigten Laut von sich. »Neunzehn Jahre lebst du nun schon mit deiner Mutter in diesen Wäldern? Mein Gott, du musst sie mit all deinen Fragen verrückt gemacht haben. Deine Mutter tut mir fast leid.«
»Wie oft durchlebt Ihr jene Schreckensnacht des Überfalls, Rand?«
Er starrte sie finster an und strich sich dann in einer Geste des Unmuts über das bärtige Kinn. »Oft genug, wenn du es wissen willst.«
»Jede Nacht?«, hakte sie nach. »Oder sogar öfter?«
Unschlüssig hob er die Schultern. »Von Zeit zu Zeit. Bisweilen bin ich … verwirrt. Dann sehe ich den Überfall so, als ereigne er sich erneut. Ich nehme den Rauch wahr, höre die Schreie meiner Frau. Aber das ist nichts«, wiegelte er brüsk ab. »Nur ein Ärgernis, das eines Tages vorbei sein wird.«
Serena hoffte es für ihn, denn es war offensichtlich, dass der Mann, der Rands Wohnsitz und Familie ausgelöscht hatte, ihm auch den inneren Frieden geraubt
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