Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
Hass in sich aufsteigen. Den Blick auf den knienden Gestaltwandler gerichtet, dessen Treueschwur er nicht glaubte, schob Silas seine Waffe behutsam in die Scheide zurück. Stahl erschien ihm in diesem Moment zu gnädig.
»Le Nantres«, murmelte er und winkte seinen gerissenen Leutnant herbei. »Bringt mir Avosaar.«
Bei diesem Namen hob der Gestaltwandler ruckartig den Kopf. Die nächsten Augenblicke genoss Silas, spürte er doch die Furcht, die den Boten gepackt hatte.
»Sire«, flehte dieser nun, »vergebt mir. Ich wollte Euch dienen, so gut ich konnte. Wenn ich Euch enttäuscht habe … «
Silas ging über die schwächliche Bitte hinweg. Seinem Dafürhalten nach war der Gestaltwandler bereits dem Tode geweiht gewesen, als er mit der Nachricht von Egremont das Zelt betreten hatte. Niemand hätte Silas dazu überreden können, diesem Narren das Leben zu schenken, weder vorhin noch jetzt.
»Hier ist Avosaar«, sagte le Nantres, und der Tonfall des Ritters ließ erahnen, dass er dem Kommenden mit Abscheu entgegenblickte.
Silas wandte sich le Nantres zu und nahm die Schönheit des kleinen Gefäßes mit bewundernden Blicken in sich auf. Avosaar, der Stein des Wohlstands, prangte in den Klauen eines goldenen, geflügelten Drachen und glühte so grün wie die Fülle des Sommers. Dieser Kelch allein verhieß eine nicht enden wollende Fülle von Gaben, die aber nicht für diesen Gestaltwandler aus Anavrin bestimmt waren.
Und auch für sonst keines dieser Geschöpfe. Den Drachenkelch zu berühren, sei es in der ursprünglichen Form oder in Teilen, bedeutete für die Abgesandten aus Anavrin den sofortigen und schmerzvollen Tod. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Silas diese Gesetzmäßigkeit unter Beweis gestellt, als eine törichte junge Frau anavrinischen Bluts versucht hatte, ihm Avosaar zu stehlen. Daraufhin hatte Silas die Frau gezwungen, den Kelch mit beiden Händen zu umschließen. Selbst jetzt noch zehrte er voller Häme von dem Augenblick, als die Diebin ihr jähes Ende gefunden hatte.
»Du weißt vielleicht, was euch Gestaltwandlern widerfährt, wenn ihr dem Gold des Kelchs zu nahe kommt«, sinnierte er, hielt das Gefäß hoch und trat zu dem knienden Wächter hin.
»Ich b…bitte Euch, Herr«, stammelte dieser und blickte gehetzt von Silas zu dem leuchtenden Kelch hinüber, dessen Schönheit für jede anavrinische Seele Schrecken bedeutete. »Mylord, bitte … «
Obwohl in der Überzahl, kamen die übrigen Gestaltwandler dem armen Teufel nicht zu Hilfe. Wozu auch? Das, was Silas sich einmal vornahm, führte er auch aus. Seiner Macht konnte niemand widerstehen; am Ende würde er über sie alle triumphieren.
Dem Gestaltwandler standen bereits Schweißperlen auf der breiten Stirn, seine gebräunten Wangen waren erhitzt. Silas stand nun unmittelbar vor ihm und berührte ihn beinahe. Hässliche Blasen bildeten sich auf dem Stiernacken und den behaarten Händen des Untiers. Der Gestaltwandler hustete, eine unsichtbare Hitze machte ihm das Atmen schwer. Silas indes gedachte, die Qualen seines Dieners zu verlängern, und kam immer näher.
»Du kannst dies beenden«, bot er mit einem diabolischen Grinsen an. »Du brauchst nur die Hand auszustrecken.«
Doch der Gestaltwandler rührte sich nicht. Vielleicht glaubte er, die Folter doch noch überleben zu können. Vielleicht dachte er auch, seinen Herrn mit diesem Durchhaltevermögen gnädig zu stimmen. Aber für einen Mann wie Silas de Mortaine war dies kein Beweis von Stärke. Für ihn war es nichts als Schwäche und Angst vor dem Tod.
»Bei allen Heiligen«, entfuhr es le Nantres, der hinter Silas stand. »Macht dem ein Ende.«
Silas wusste nicht, ob die Worte des kühnen Ritters ihm oder dem Gestaltwandler galten, aber schon im nächsten Augenblick ergab sich der anavrinische Wächter. Mit einem Aufheulen, das sich an den Zeltwänden brach, umklammerte der Todgeweihte die goldene Kelchschale mit beiden Händen. Flammen schossen aus dem Gefäß empor, als hätte ein Drache Feuer gespien. Wild züngelnd erfassten sie das Geschöpf aus Anavrin und verbrannten es in einem heißen Feuerball.
Silas trat einen Schritt zurück, den Arm schützend vor die Augen gelegt. Für seinen Geschmack war der Diener zu schnell verbrannt. Nun waren nur noch Asche und Rauch von ihm übrig. Es war Silas nicht leichtgefallen, auf einen weiteren Wächter des verborgenen Reichs zu verzichten, aber er hatte ein Exempel statuieren müssen.
Er nahm Avosaar, der trotz der Hitze
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