Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
Nichts schien ihr zu helfen, zumindest nichts, das ich ihr hätte geben können. Und während sie sich innerlich zurückzog, stürzte ich mich in meine Pflichten rund um die Burg. Ich wusste, dass Elspeth unglücklich war, aber lange erkannte ich das Ausmaß ihrer Unzufriedenheit nicht – erst, als sie sich dann vollkommen aufgab und viel zu viel von den Kräutern nahm. Elspeth hätte sich selbst getötet und unser ungeborenes Kind dazu, nur um ihre Schmerzen loszuwerden.«
»Das war ungerecht von ihr«, sagte Serena mit fester Stimme. »Das Leben kennt Freude und Schmerz. Will man das eine leugnen, leugnet man das Leben als Ganzes.«
Während sie sprach, nahm sie seine Hand in ihre. In dieser kleinen, zärtlichen Geste lagen all ihr Glaube und ihr Vertrauen. Ihre Finger verschmolzen mit seinen, und er wusste, dass sie nun all das fühlte, was in ihm vorging; die Ahnung nahm seinen Zorn und seine Schande auf, auch das Gefühl der Sinnlosigkeit, das ihn während der letzten Ehejahre niedergedrückt hatte. In aller Schärfe wurde ihm bewusst, dass seine Gemahlin – eine Frau, die zu ehren und zu schützen er gelobt hatte – lieber in die endlose Nacht des Todes eingetaucht war, als einen weiteren Tag mit ihm zu verbringen.
»Nein«, wies Serena seine unausgesprochenen Selbstzweifel mit leiser Stimme zurück. »Was sie getan hat, war ihre Sache. Daran hast du keine Schuld, Rand. Das darfst du dir nicht einreden.«
»Sie war dem Tod nahe, schon ehe die Burg angegriffen wurde«, sagte er und erinnerte sich an die Hustenanfälle, von denen sie geschüttelt wurde, während sie sich stritten. Sie hatte kaum noch Luft bekommen, war erschreckend bleich gewesen, als sie sich in die Schlafkammer zurückgezogen und ihn gebeten hatte, sie in Ruhe sterben zu lassen. »Die Angreifer legten Feuer, während sie die Mauern überwanden. Als ich den Tumult hörte und mir der Rauch in die Nase stieg, griff ich nach meiner Waffe und rannte aus der Kammer. Elspeth hatte zu diesem Zeitpunkt schon keinen klaren Kopf mehr. Sie lief mir nach, obwohl ich ihr gesagt hatte, sie solle im Gemach bleiben. Sie hatte Todd bei sich – Gott, wie entsetzt der Kleine war. Er weinte und klammerte sich an seine Mutter, während die Rauchschwaden von unten heraufzogen. In ihrem Zustand konnte Elspeth den Jungen kaum noch halten.«
Serena drückte aufmunternd seine Hand und vermittelte ihm, dass sie nachvollziehen konnte, wie schwer es ihm fallen müsse, von den schlimmen Ereignissen jener Nacht zu erzählen.
»Ich konnte nicht viel tun. Die Angreifer waren bereits im Wohnturm. Sie bedrohten mich, schlugen mit Fackeln und Schwertern nach mir, üble Verwünschungen ausstoßend. Doch sie wollten mich nur verletzen, denn sie brauchten mich lebend. Ich besaß etwas, das sie haben wollten – das war der Grund ihres Kommens.«
»Rand, diese Angreifer … « Serena erschauerte und warf einen Blick auf ihre verschränkten Finger. »Es waren keine gewöhnlichen Menschen, nicht wahr? Ich sah sie für einen kurzen Augenblick, als ich dich in der Hütte berührte, aber ich verstand nicht, was ich da sah. Sie wirkten auf seltsame Art unmenschlich.«
Rand nickte langsam, denn es war zu spät, die schreckliche Wahrheit länger zu verbergen. »Es waren Gestaltwandler«, räumte er ein, wobei er das Wort zischend hervorstieß. »Sie sind weder Mensch noch Tier, sondern eine unstete Zwischenart. Sie sind in der Lage, sich beliebig zu verändern. Darin liegt ihre Bedrohlichkeit.«
»Wölfe«, wisperte Serena. »Sie sind in Gestalt von Wölfen über Greycliff Castle hergefallen.«
»Ja. Und ein solches Untier folgte mir auch auf das Schiff in Liverpool. Es griff mich an Deck an. An jenem Tag regnete es; wir wurden über Bord gespült. Der Bastard fügte mir all diese Risswunden zu, ehe ich ihn im Meer überwältigen konnte.«
»Alles wegen des Kelchs, den du bei dir trugst?«
»Ja«, antwortete er. »Als die Gestaltwandler meine Burg überfielen, suchten sie nach einem wertvollen Gegenstand, den mir ein Freund übergeben hatte, Kenrick of Clairmont. Ich hatte mich bereit erklärt, diesen Gegenstand sicher zu verwahren, und hatte Kenrick versprochen, dass er nicht in die Hände der Feinde fallen werde. Aber dann bedrohten die Gestaltwandler meine Familie. Sie hatten ihre Armbrüste auf meine Frau und mein Kind gerichtet und ließen sie nicht aus dem Turm entkommen.«
»Oh, Rand.« Mit der freien Hand streichelte Serena über seine Finger. »Du durftest nicht
Weitere Kostenlose Bücher