Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
ihrem Herzen, als sie mit bloßen Füßen über den kühlen Waldboden ging. Auf dieser Seite des Waldes gab es keinen Pfad, nur kleine Blumen und Ranken sowie alte, weiche Nadeln von Koniferen. Leise bahnte sich Serena ihren Weg durch die dicht stehenden hohen Bäume, vorbei an den Schösslingen und dem Farnkraut, und ließ sich von der kühlen Nachtluft umfangen. Hoch oben über den Baumkronen schien der Mond milchweiß und verbarg sich nur ab und zu hinter dünnen Wolkenbändern.
Sie ging ohne Eile, und doch wuchs mit jedem Schritt ihre Furcht, dass sie niemanden mehr im Wald antreffen würde, dass Rand dem Ruf der Vergeltung gefolgt war. Die Laute der Nacht umgaben sie: Farnkraut und Efeu raschelten zu ihren Füßen, und Vögel bewegten sich auf den Ästen, unter denen Serena herging. In dieser Richtung lag der Sturzbach; das ahnte sie, ehe das gedämpfte Rauschen des hinabstürzenden Wassers an ihre Ohren drang.
Sämtliche Geräusche des Waldes wurden von dem majestätischen Rauschen überlagert, als Serena den Weiher auf leisen Sohlen erreichte.
Dunkelheit umfing den Ort.
Weiter hinten, in Schatten gehüllt, da war Rand – einsam und allein unter dem tiefblauen Nachthimmel. Er saß auf dem abgeflachten Fels am Weiher, wo Serena ihn zurückgelassen hatte. Seine kauernde Gestalt hob sich von den Schleiern des Wasserfalls ab, die im Mondschein silbrig glitzerten. Er hatte ihr den Rücken zugedreht und hockte reglos da, still und in sich gekehrt. Sie trat einen zaghaften Schritt nach vorn.
Oh, Rand.
Schweigend und mit zögernden Schritten näherte sie sich ihm, da sie nicht sicher war, ob sie ihn in seiner Einsamkeit stören sollte. Sie durchlebte einen Moment der Angst, denn Rand kam ihr mit einem Mal so unnahbar und entrückt vor. Er harrte in der Dunkelheit aus, abgeschieden und abseits des Lebens. Serena fürchtete, seinen aufflammenden Zorn zu spüren zu bekommen, wenn sie sich bemerkbar machte. Womöglich würde er sie wieder barsch anfahren, wie er es schon einmal getan hatte. Obwohl sie sich am Tag nähergekommen waren, könnte er sie mit schroffen Worten fortschicken, hatte er sie doch schon des Öfteren abgewiesen, wenn sie sich ihm in freundlicher Absicht genähert hatte.
Doch als sie nun sah, dass ein leises Beben über seinen Rücken lief, vergaß sie ihre Bedenken. Nur unter Aufbietung all seiner Kraft schien er ruhig sitzen zu können. Er atmete zwar, aber das Luftholen wirkte mühsam und rau, als kämpfe er gegen aufgestaute Gefühle an, die jeden Augenblick aus ihm herausplatzen könnten. Er hielt den Kopf gesenkt, sein Kinn berührte seine Brust. Die Arme hatte er um die angezogenen Knie geschlungen.
Nur noch wenige Schritte, und sie war nur eine Armeslänge von ihm entfernt. Sie hielt inne, zu ängstlich, um etwas zu unternehmen. Ihr Herz krampfte sich zusammen.
Armer, einsamer Mann.
Seine Schultern bebten, doch das einzige Geräusch auf der Lichtung kam von den tosenden Wassermassen.
Er ist so allein. So furchtbar allein.
Serena streckte die Hand nach ihm aus und legte ihm die Finger auf die kraftvolle Schulter. Rand zuckte nicht zusammen und wich auch nicht zurück. Nein, einen langen Moment reagierte er überhaupt nicht auf diese unerwartete Berührung.
Augenblicklich durchlebte Serena seinen Kummer, fühlte, wie der Schmerz des Verlusts durch ihre Handfläche bis in ihr Herz und tief in ihre Seele drang.
Schließlich drehte er ihr langsam das Gesicht zu. Im kühlen Widerschein, den das Mondlicht auf dem Wasserfall erzeugte, glänzte sein Antlitz. Zwei feuchte Spuren zogen sich von seinen schmerzerfüllten Augen über seine Wangen und endeten in dem Bartschatten am Kinn.
»Serena«, sagte er mit belegter Stimme. Es klang wie ein Flehen, denn er streckte ihr die Hand entgegen, blieb indes sitzen, da er in diesem Moment womöglich nicht aufstehen konnte, und hieß sie in seiner Umarmung willkommen.
Serena ließ sich von seinem starken Arm umfangen, schlang die Arme um seine Schultern und hielt ihn, während der Umhang sie beide einhüllte. Seine Wange drückte gegen ihren Bauch, sein glänzendes dunkles Haar schmiegte sich an ihr Herz. Sie strich über sein Haupt und stemmte sich gegen den Ansturm seiner aufgestauten Gefühle, die weiterhin ihren Leib durchströmten – tiefschwarze Zornesaufwallungen, durchsetzt von Schmerz und Bedauern.
»Ich weiß«, wisperte sie, beugte sich hinab und küsste ihn auf den Scheitel.
Sein Haar fühlte sich an ihren Lippen weich an, seine Arme
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