Der Keller
Haft an Schwindsucht und seine Kinder wurde in Heime in Bangor gesteckt. Doch trotz dieser Tragödie ließ sich der Tierschänder nicht mehr blicken.
Sie kennen aber bestimmt das Sprichwort, dass es erst richtig düster werden muss, bevor es wieder hell wird, Mr. Bonham. Richtig düster wurde es in Rockwell im Frühling des Jahres 1945. Mitte April verschwand Milly Durham beim Spielen im Garten. Ihre Leiche wurde einige Tage später im Wald gefunden. Der kleine Körper war übel zugerichtet und Dr. Stevens, der Nachfolger von Dr. Harris, bestätigte, dass sie auch missbraucht wurde, bevor der Täter sie zu Tode würgte. Sie war auf alle natürlichen und widernatürlichen Arten missbraucht worden Mr. Bonfield. Die Zeitungen trauten sich nicht einmal genau darüber zu berichten, was man ihr alles angetan hatte, solch furchtbare Dinge hatte der Täter mit ihr angestellt. In der Stadt brach Panik aus und Kinder wurden plötzlich gleich nach der Schule weggesperrt, so als handelte es sich dabei um rohe Eier. Doch alle Vorsicht nützte nichts. Kurz darauf verschwanden zwei weitere Kinder innerhalb von nur einer Woche: Louis Williams und Barbara Sanders, beide noch Grundschulkinder, verschwanden auf dem Nachhauseweg von der Schule. Auch ihre Leichen wurden im Wald gefunden. Der Kopf des Mädchens fehlte zwar, ihre Mutter konnte sie jedoch anhand einer Narbe auf ihrem Rücken identifizieren, die sich im Alter von drei Jahren bei einem Sturz von einem Baum zugezogen hatte.
In der gleichen Woche, in der die beiden Kinderleichen gefunden wurden, bot sich einigen Bewohnern von Rockwell ein seltsames Schauspiel. Walter Roberts lief in einem alten Kleid seiner toten Mutter durch die Main Street, lächelte dabei wie ein Verrückter und bellte hin und wieder wie ein Hund. Er trug ihren schönsten Hut, hatte ihre Handschuhe an und soweit es die Leute beurteilen konnten, auch ihre Netzstrumpfhosen. Er kam nicht einmal bis zur Post, als er von Francis und seinem Freund Duke Robins verhaftet und abgeführt wurde. Sie warfen ihn wegen unzüchtigen Benehmens in eine Einzelzelle und ließen ihn eine Nacht lang schmoren, wie sie damals sagten, wenn sie jemandem Angst einjagen wollten. Sie hätten ihn vielleicht genauso gut dem Haftrichter vorführen und ihn für ein paar Wochen einbuchten können – daran besteht kein Zweifel. In Lewiston oder Bangor hätten es die Deputies wahrscheinlich auch genauso gemacht – aber Rockwell ist eine Kleinstadt, Mr. Bonfield – und wie in jeder Kleinstadt der damaligen Zeit, tickten auch hier die Uhren ein bisschen anders. Man trug nichts den Gerichten vor, von dem man glaubte, dass man es auch so – in der Gemeinschaft der Bürger aus der Welt schaffen konnte. Man löste die Problem so, wie manch eine Familie ihre Probleme löste: In schlechten Zeiten rückten alle ein bisschen näher zusammen und die wirklich schlimmen Dinge schaffte man aus der Welt, indem man ein Tuch des Schweigens über sie spannte wie ein Grabtuch. So hatte es schon immer funktioniert und ich denke, dass dies auch in Zukunft eine typische Eigenheit von Kleinstädten wie Rockwell bleiben wird.“
Doris machte eine Pause und nahm den letzten Schluck von ihrem Kaffee. Dann drehte sie die Tasse um und setzte sie verkehrt herum auf die Untertasse, um dem Kaffeesatz die Möglichkeit geben, sich zu legen, bevor sie daraus las. Roger kannte diese Marotte von seiner eigenen Großmutter, die allerlei Schicksalsschläge in den trüben Klecksen in ihrer Tasse gelesen hatte, wie aus einem Rohrschachtest für Geisteskranke. Doris’ kratzige Stimme erklang wieder und schnitte Richards Gedanken in der Mitte durch, wie einen Regenwurm bei der Gartenarbeit.
„ Wie dem auch sei – sie buchteten Walter ein und ließen ihn eine Nacht lang schmoren. Meistens reichte das aus, um einen Trunkenbold von seinem Suff zu heilen oder einen Schläger zu beruhigen, der die letzten drei Thanksgiving-Essen aus seiner armen Frau geprügelt hatte. Was es auch ist, Mr. Bonfield, diese Zellen besitzen auf die meisten Menschen eine ganz eigenartige Wirkung. Vielleicht ist es die Einsamkeit des Kellers, in dem sie sich befinden oder die Tatsache, dass damals unter jeder der Pritschen eine Bibel lag – aber in den meisten Fällen reichte eine Nacht aus, um jene zu läutern, die dort eingesperrt wurden. Die meisten für immer und manche nur vorläufig – bei Walter aber, wie soll ich sagen, er…“
Doris’ Stimme verhallte plötzlich, wie ein Pistolenschuss
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