Der Kelte
Erinnerung in Rose aus ...
62 v. Chr.
„Es tut mir so leid!“ Eine mitfühlende, freundliche Stimme.
Rose schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein! Wie können die Götter uns erst die Mutter nehmen und jetzt auch noch ihn?“ Ein scharfer, brennender Schmerz zuckte durch ihr Herz. Ihr Vater! Er war auf einer Handelsreise zu den Völkern jenseits des Kanals unterwegs, und soeben war die Kunde gekommen, dass er als verschollen galt.
Sie schaute den jungen Kerl an, der die schlimme Nachricht überbracht hatte. Mit hängendem Kopf stand er da, der Inbegriff des Boten, der sich der schlechten Kunde schämte, die er brachte.
„Es tut mir leid, Rose“, murmelte auch er. Seine Stiefel und auch die grobe Leinhose, die er trug, waren schmutzig und zerschlissen. „Er ist in den Wald gegangen und nicht wiedergekommen. Wir haben alle tagelang nach ihm gesucht, aber das Einzige, was wir gefunden haben, war das hier.“ Er hob einen Stofffetzen in die Höhe, den er ihr schon eben hatte geben wollen, den sie aber nicht genommen hatte. Eine dunkelblaue Borte. Sie kannte sie gut. Sie selbst hatte sie gewebt. Für ihren Vater.
Mit Tränen in den Augen nahm sie den Fetzen.
Blut klebte daran.
„Wölfe?“, hauchte sie.
Der Bote nickte betreten. „Wir vermuten es.“
Rose kämpfte gegen die Trauer an, die in ihr hochsteigen wollte. Sie musste jetzt stark sein. Der Bote hatte ihr gesagt, dass sie Waise war. Von nun an war sie für sich selbst verantwortlich. Ihr Blick irrte durch die rauchgeschwängerte Kammer auf der Suche nach Branwen, aber sie konnte sie nirgends entdecken.
Stattdessen sah sie Alan.
Er stand unter dem Türstock. Das Licht, das von draußen hereinfiel, umrahmte seine hochgewachsene Gestalt und ließ die Spitzen seiner schwarzen Locken schimmern. Roses Herz machte einen Satz, aber sie verbot sich jede Regung. „Mein Vater ist tot“, sagte sie stattdessen.
Er rührte sich nicht, nickte nur. Dann, nach einigen Augenblicken, in denen Rose verzweifelt versuchte, ihre Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, trat er vor sie hin. Seine Augen waren sehr blau und sehr traurig. Sie erwartete, dass er ihr auch sagen würde, wie leid es ihm tat, aber stattdessen zog er sie einfach in seine Arme. Er umfing sie, hielt sie fest, ihr Fels, an den sie sich lehnen, bei dem sie Schutz suchen konnte. Ihre Augen flossen über. Sie legte den Kopf an seine Brust, tief atmete sie seinen Geruch ein.
„Ich bin bei dir“, flüsterte er ihr ins Haar.
Sie schluchzte auf. „Versprich mir, dass sich das niemals ändern wird!“, bat sie ...
1888
Rose erwachte, weil die Kutsche über einen Stein rumpelte und ihr Kopf schmerzhaft gegen die Scheibe schlug. Kurz geisterte der Traum durch ihren Kopf, und sie wusste, dass es kein Traum gewesen war, sondern eine Erinnerung.
Ihr Blick wanderte zu Alan, der ihr gegenübersaß und sie betrachtete. Seine Augen waren unergründlich. „Geht es dir gut?“, fragte er leise.
Sie wollte nicken, aber in diesem Moment hielt die Kutsche mit einem harten Ruck, der Rose nach vorn warf und sie gegen Alan schleuderte.
„Achtung!“ Er fing sie auf und lächelte sie an. „Nicht so stürmisch!“
Sie blickte zu ihm auf und kam sich einen Atemzug lang so hilflos vor wie soeben in ihrem Traum. Dann machte sie sich aus seinem Griff los und setzte sich wieder.
Enora auf dem Sitz neben ihr lachte.
Rose senkte den Kopf, sodass die beiden nicht sahen, wie ihre Wangen sich röteten. „Warum halten wir?“, fragte sie, und ihre Stimme klang verräterisch heiser dabei.
Alan warf einen Blick aus dem Fenster. „Vielleicht ein Radbruch“, sagte er. „Bei dem Rums eben wäre das kein Wunder.“ Er öffnete den Kutschenschlag und war draußen, bevor eine der beiden Frauen etwas sagen konnte.
Rose starrte ihm hinterher. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals.
Sie hörte Enora schon wieder lachen. „Er macht dich ganz schön verrückt, nicht wahr?“
Rose schüttelte den Kopf, aber sie wusste, dass Enora ihr die Lüge am Gesicht ablesen konnte.
„Er hat es schon immer gemacht“, sagte Enora. „Es hat keinen Sinn, es leugnen zu wollen.“
„Erzähl mir von ihm!“, bat Rose.
Enora zögerte. „Was willst du wissen?“
„In früheren Leben, haben wir ... hat er mich ...“ Sie wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. Die Wärme ihrer Wangen verwandelte sich in glühende Hitze. „Du weißt schon!“, endete sie lahm.
Enora schmunzelte. „In dieser Zeit hier würde
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