Der Ketzerlehrling
unerschüttert auf das zerzauste Haar und das verschmutzte Gesicht des angeblichen Ketzers gerichtet waren.
Sie sahen sich eindringlich und mit fasziniertem Interesse an, Richter und Angeklagter, nahmen sorgfältig Maß von einem ganzen Feld von Glaube und Irrtum, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, auf dem sie einander zu begegnen versuchen mußten, trotz aller Fallgruben und Schwemmsande.
»Ihr seid Elave?« sagte der Bischof sanft. »Elave, weshalb wolltet Ihr jetzt weglaufen?«
»Ich wollte nicht weg-, sondern hinlaufen«, sagte Elave.
»Mylord, eine Frau ist in Gefahr, wenn es sich so verhält, wie ich befürchte. Ic h habe es gerade erst erfahren. Und ich war es, der sie in Gefahr gebracht hat. Erlaubt mir, daß ich zu ihr gehe und sie in Sicherheit bringe; dann komme ich zurück, ich schwöre es. Mylord, ich liebe sie, ich möchte sie heiraten …
Wenn sie in Gefahr ist, muß ich zu ihr.« Inzwischen war er wieder zu Atem gekommen, er streckte die Hände aus, ergriff den Rock des Bischofs und ließ ihn nicht wieder los. Eine unglaubliche Hoffnung wallte in ihm auf, da er nicht zurückgewiesen wurde und der Bischof auch nicht versuchte, sich ihm zu entziehen. »Mylord, der Sheriff ist unterwegs und versucht sie zu finden, er wird Euch später bestätigen, daß das, was ich sage, wahr ist. Aber sie ist mein, sie ist ein Teil von mir und ich von ihr, und ich muß zu ihr. Mylord, nehmt mein Wort, mein allerheiligstes Ehrenwort, meinen Eid, daß ich zurückkehren und mein Urteil hinnehmen werde, wie immer es ausfallen mag, wenn Ihr mich nur für diese paar Abendstunden gehen laßt.«
Abt Radulfus entfernte sich zwei Schritte weit von dieser Begegnung, sehr bestimmt und so gebieterisch, daß alle Umstehenden gleichfalls stillschweigend zurückwichen und die Szene mit weit aufgerissenen Augen verfolgten. Und Roger de Clinton, der sich in Sekundenschnelle ein Urteil über einen Menschen zu bilden vermochte, streckte eine Hand aus, ergriff kraftvoll Elaves Hand und zog ihn hoch. Dann trat er mit einer gebieterischen Geste von seinem Platz zwischen Elave und dem Tor beiseite und wies den Pförtner an: »Laßt ihn gehen!«
Der Schuppen, in dem Jevan von Lythwood seine Häute bearbeitete, lag ein gutes Stück von den letzten Häusern von Frankwell entfernt, einsam am rechten Ufer des Flusses, am Fuß einer steil abfallenden Wiese, an deren oberem Rand sich eine Reihe von Bäumen und Sträuchern hinzog. Das Wasser war selbst jetzt im Sommer recht tief und hatte eine kräftige Strömung, die ideal war für Jevans Zwecke. Die Pergamentherstellung erforderte das ständige Vorhandensein von Wasser, in den ersten Tagen sogar von fließendem Wasser, und diese Stelle, an der der Severn sehr schnell floß, bot einen hervorragenden Ankerplatz für die offenen, mit Netzen überzogenen Holzrahmen, an denen die rohen Häute so aufgespannt wurden, daß das Wasser ungehindert auf ganzer Länge über sie hinwegströmen konnte, Tag und Nacht, bis sie soweit waren, um in die Lösung aus Kalk und Wasser gelegt zu werden, in der sie zwei Wochen verbrachten; dann wurden alle noch vorhandenen Haare abgeschabt und es folgten noch weitere zwei Wochen, in denen sie vollends bleichten. Fortunata war vertraut mit diesen Arbeitsgängen, deren Endergebnis die dünnen, weißen Häute waren, auf die ihr Onkel mit Recht so stolz war. Aber sie vergeudete keine Zeit mit den Netzrahmen im Fluß. Niemand würde dort etwas von Wert verstecken, auch nicht, wenn es mit vielen Lagen von schützendem Wachstuch umwickelt war. Ein leichter Fleischgeruch von den eingeweichten Häuten drang ihr im Vorbeigehen in die Nase, aber die Strömung war stark genug, um übleren Gestank zu verhindern. In dem Schuppen vermischte sich der Fleischgeruch mit dem beißenden Aroma der Kalkbottiche und dem erfreulicheren Duft fertigen Leders.
Sie drehte den Schlüssel im Schloß und trat ein, behielt den Schlüssel bei sich und machte die Tür hinter sich zu. Es war düster und stickig hier drinnen, der Schuppen war seit dem Morgen geschlossen gewesen, aber sie wagte nicht, die Läden zu öffnen, durch die das Licht direkt auf Jevans großen Tisch gefallen wäre, auf dem er seine Häute säuberte, abschabte und mit Bimsstein glättete. Alles mußte einen verschlossenen und verlassenen Eindruck machen. Es gab keine Nachbarhäuser, kein Pfad führte in der Nähe vorbei, und sie hatte jetzt genügend Zeit und keinen Grund zur Eile. Was sich nicht mehr im Haus befand, mußte sich
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